Empusion
Schauspiel

Von Olga Tokarczuk
In einer Dramatisierung von Lucien Haug

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  • Szene aus Empusion
    © Lucia Hunziker
  • Szene aus Empusion
    © Lucia Hunziker
  • Szene aus Empusion
    © Lucia Hunziker
  • Szene aus Empusion
    © Lucia Hunziker
  • Ca. 2 Stunden 5 Minuten ohne Pause
  • Basler Premiere der deutschsprachigen Erstaufführung
  • Interessant für Menschen ab 14+
  • Mit polnischen Übertiteln
  • Diese Vorstellung enthält Szenen mit Stroboskop-Effekten, welche bei lichtempfindlichen Menschen als störend empfunden werden können.

Die Norm ist ein Hirngespinst

Ein schreckliches Geheimnis umgibt den schlesischen Luftkurort Görbersdorf. Jedes Jahr kommt im nahen Wald ein junger Mann ums Leben. Hier trifft sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges eine Gruppe Männer zur Kur. Während die Patienten, in intellektuellen Gesprächen versunken, die Höhenluft geniessen, erzählt man sich, dass die Empusen – weibliche Rachegeister – schon nach ihrem nächsten Opfer suchen. Vor diesem unheimlichen Hintergrund ist der junge Mieczysław Wojnicz auf der Suche nach seiner Identität und Zugehörigkeit: Seine Heimat Polen wurde von der Landkarte getilgt, seinen Körper verbirgt er hinter Anzug und Krawatte. Niemand darf erfahren, wer er ist.

Die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk antwortet mit ihrem Roman böse und unterhaltsam auf Thomas Manns 100-jährigen ‹Zauberberg› und erzählt von ausrangierten Männern, die alles Andersartige vereinnahmen und unterwerfen möchten. Ein fünfköpfiges Frauenensemble nimmt sich ihrer Erzählung an und spielt diese verlorenen Männer auf Kur mit Humor, Leidenschaft und Tiefgründigkeit. So entsteht unter der Regie von Antú Romero Nunes ein Abend über Männer, die sich selbst vernichten, gespielt von Frauen, die uns einen möglichen Ausweg zeigen.

‹Empusion› ist eine Wortschöpfung aus «Empusa», einer Bezeichnung für ein weibliches Schreckgespenst, und «Symposion», dem Wort für ein Trinkgelage im antiken Griechenland, in dem das philosophische Gespräch im Mittelpunkt stand. ‹Empusion› könnte man also als Trinkgelage weiblicher Spukgestalten verstehen. Doch in Olga Tokarczuks Roman sprechen nicht Frauen oder Gespenster miteinander, sondern Männer, die sich zu einem Sanatoriumsaufenthalt im schlesischen Görbersdorf zusammengefunden haben. In der Erzählung sind Frauen zunächst nur Randgestalten, über die schlecht gesprochen wird. Nach und nach wird deutlich, dass die «Empusen» oder «Tuntschis» – selbst unsichtbar – die Männer fortwährend beobachten und uns über sie berichten. Die «Empusa» taucht in der antiken Literatur erstmals in Aristophanes’ ‹Die Frösche› auf. Dort begegnen der Gott Dionysos und sein Diener Xanthias einem solchen Wesen: Anscheinend ist es eine «Sie», die ein feuriges Antlitz besitzt, ein Bein aus Erz hat und ein anderes bestehend aus Kuh- oder Eselsmist. «Tuntschis» wiederum waren ursprünglich aus Stroh oder Holz erstellte Puppen, die von manchen Sennen oder Köhlern gefertigt wurden, um sich während ihrer langen Aufenthalte auf der Alp oder in den Wäldern daran zu befriedigen. In einer alten Schweizer Sage erwacht ein solches «Sennentuntschi» zum Leben, wird zu einer lebendigen Frau und verfolgt die Männer, die sich an ihr vergangen haben. In den Wäldern um Görbersdorf haben Köhler gearbeitet, und auch ihre «Tuntschis» findet man noch heute: Es sind geschnitzte Baumstämme, die mit Ästen und Moos ausgestattet wurden, um den weiblichen Körper darzustellen. Und diese «Tuntschis» erzählen nun, kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs, von misogynen Männern auf Kur – in einem der ersten modernen Kurorte für Tuberkulose-Kranke überhaupt. Für die Inszenierung hat sich Regisseur Antú Romero Nunes dazu entschieden, alle männlichen Figuren mit weiblichen Spielerinnen zu besetzen. So wie im Roman die «Empusen» über Männer erzählen, spielen hier Frauen misogyne Männer. Es heißt einmal im Roman:

«Nun, zuweilen, wenn wir uns mit Frauen unterhalten, können wir den Eindruck gewinnen, als gäben sie vernünftige Antworten, als dächten sie so wie wir. Doch ist das eine Illusion. Sie imitieren, sie imitieren unsere Art des Gesprächs, und manche von ihnen, das muss man zugestehen, haben es recht weit darin gebracht.» – Empusion, Olga Tokarczuk

Die Spielerinnen stellen die altertümliche frauenfeindliche Vorstellung auf den Kopf und imitieren tatsächlich den ganzen Abend Männer: mal kunstvoll, mal derb, oft humorvoll, ernsthaft und manchmal berauschend. Vielleicht sind sie auch eine Gruppe weiblicher Schreckgestalten, die in ein Spiel des Männlichen verfallen, und so eine Geschichte über die Abgründe von Männlichkeit und des Patriarchats erzählen. Was diese Männer über Frauen zu sagen haben, erzählt vielmehr etwas über sie selbst.
Es sind schwache, für das Militär erzogene Männer, die 1913 entweder krank oder untauglich sind. Zur Kur gehen sie auch, weil die Vorkriegsgesellschaft solchen Männern keinen Platz mehr bietet. Denker, Schwafler oder Künstler landen auf dem Abstellgleis. August August wird beispielsweise von seiner Schwester, Longinus Lukas von der Tochter nach Görbersdorf geschickt, und beide Frauen finanzieren den Aufenthalt ihres Bruders oder Vaters auch noch vollumfänglich. Die misogynen Ansichten im Roman ‹Empusion› zum Thema der Frauen und ihrem Stand in der Welt sind allesamt Paraphrasen männlicher Autoren der letzten Jahrhunderte. Darunter finden sich Aussagen von Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Frank Wedekind oder Arthur Schopenhauer. Olga Tokarczuk verwebt ihre Zitate zu einer Art feministischer Volte und rückt damit auch aktuelle frauenfeindliche Politik bestimmter europäischer Parteien ins Licht. Der Roman erschien 2022 in Polen. 2020 setzte das polnische Verfassungsgericht unter der damals regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ein praktisches Abtreibungsverbot durch. Aus Angst vor Repressionen weigern sich Ärzt:innen seitdem oft, Abtreibungen vorzunehmen. Noch heute ist es dem polnischen Parlament nicht gelungen, dieses Gesetz abzuschaffen. In Deutschland schreibt die AfD in ihrem Europawahlprogramm 2024:

«Abtreibungen müssen zur Ausnahme werden […] Jeder Mensch ist ab Befruchtung ein Mensch. Daher muss Abtreibung die absolute Ausnahme werden, z.B. aufgrund von kriminologischen oder medizinischen Indikationen.» – Europawahlprogramm der AfD, 2024

In dem genannten Abschnitt steht nichts zum Körper der Frau oder zu ihren Rechten. Nach Ansicht von AfD-Politiker:innen soll der weibliche Körper unter staatliche Kontrolle gestellt werden.
Das «neue Leben» wird damit wieder stärker gewichtet als das Leben der schwangeren Frau – ein überkommenes Verständnis, das von stark religiös oder nationalistisch geprägten Gesellschaften eingefordert wurde. Ihren Machthabern war daran gelegen, Soldaten zu schaffen, das heisst Geburtenraten zu erhöhen, um langfristig als Nationen wehrfähig zu bleiben. Tokarczuks Erzählung führt diese Ideen ad absurdum.
Denn in ‹Empusion› ist der Protagonist ein Hermaphrodit – heute intersexuell – eine Person mit zwei Geschlechtern. Mieczysław Wojnicz ist weder für die Männer rings um ihn greifbar noch für die weiblichen Spukgestalten aus den Wäldern. Er, zum Ende hin eine sie, ist ein Wesen, das dazwischensteht und mit den Begriffen des angehenden 20. Jahrhunderts nicht zu fassen ist. Ein Zufall der Natur, der sich Kategorisierungen und einfacher Einteilungen unserer Gesellschaft widersetzt. Vielleicht ist die «Empusa», die so viele Gesichter oder Formen in einem einzelnen Körper vereinen kann, deshalb die titelgebende Gestalt.
Nun sind wir auf dem Theater, dem Raum des Spiels und der Fantasie. Im Zentrum von Antú Romero Nunes’ Theaterverständnis stehen immer die Spieler:innen, ihre Lust am Spiel und ihre Fantasie. Mit einfachsten Mitteln erschaffen sie ganze Welten auf der Bühne. Männer spielende Frauen sind etwas, was es in der Theatertradition lange nicht gab, da es Frauen über Jahrhunderte verboten war, auf einer Bühne zu stehen. Doch seit die berühmte französische Schauspielerin Sarah Bernhardt 1899 in Paris den Hamlet gegeben hat, sind Frauen in Hosenrollen im Theater nichts Ungewöhnliches mehr. Schaut man allerdings die ersten simplen Filmaufnahmen an, hat sich Bernhardt dabei wohl eher wenig mit männlichen Eigenarten oder Machismo beschäftigt. Mit damals 55 Jahren spielte sie einen jungenhaften, schon fast kindlichen Prinzen. Sie beschäftigte sich zurecht mehr mit seinem jugendlichen Übermut als mit seinem Geschlecht.
Doch auch sie musste sich damals von Kritikern anhören, dass es einer Frau gar nicht möglich sei, Kunst zu schaffen:

«Die Fähigkeit, Ideen zu konzipieren und umzusetzen, ist ein Attribut der Männlichkeit; sofern Frauen überhaupt Kunst betreiben, ahmen sie die Männlichkeit nach und überschreiten ihre natürlichen Grenzen. Nirgendwo erkennt man das Versagen der Frau in der Kunst so gut, wie wenn sie auf der Bühne Männer verkörpert.» – aus einer Kritik zur Premiere von Bernhards ‹Hamlet›

Gegen diese misogynen Ansichten bildete sich Widerstand. Entstanden aus kurzen Auftritten in Vaudeville-Shows oder im Kabarett verschob sich die lustvolle und überzogene Bühnendarstellung des «Männlichen» in den 1950er und 1960er-Jahren Jahren in die queere Subkultur. Das Verkleiden als Person eines anderen Geschlechts war zum Beispiel in den USA bis in die 1970er-Jahre verboten und wurde gesellschaftlich geächtet. So entwickelte sich die Kunst der «Drag Kings» zu einer Protestform. Der Akt will, ähnlich wie die Darbietungen von «Drag Queens», viel stärker soziale männliche Normen befragen, und wurde und wird von Frauen genutzt, um männliche Verhaltensweisen spielerisch für sich zu beanspruchen. Seit Ende der 1980er-Jahre ist die Bewegung vor allem im angelsächsischen Raum groß geworden. Performerinnen schufen männliche Alter Egos für ihre Bühnenauftritte, mit denen sie ein Verhalten pointiert zur Schau stellten, was ihnen als Frauen gesellschaftlich verboten war oder nicht zugestanden wurde. Der spielerische Akt bei dem Männlichkeit einfach an- und abgelegt werden kann, zeigt wie fragil die Konstruktion dieser männlichen Alter Egos ist. Er führt uns vor, wie leicht «männlichen» Gebärden, die in der Gesellschaft seit eh und je für Stärke und Dominanz stehen, ihre Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit entzogen werden kann. 
Als Männer verkleidete Frauen, die sich über misogyne Themen auslassen, das ist nicht nur unterhaltsam und grotesk, es zeigt uns auch, wo sich der perfekte Nährboden für diese Art von Wut und Missgunst bildet: unter den Erniedrigten, Beleidigten und Abgehängten.

 

Eine Koproduktion mit dem Lausitz Festival und dem Schauspiel Köln, in Zusammenarbeit mit dem Staatstheater Cottbus

Gemeinsam mit der Dramaturgie kuratiert das Basler Kulturhaus Bider & Tanner seit vielen Jahren den Büchertisch zu unseren Stücken. Jetzt ist diese Auswahl an Büchern, CD, DVD, Katalogen oder auch Noten jederzeit im Onlineshop zugänglich. Es lohnt sich, regelmässig zu stöbern.

Büchertisch

Mediathek

Antú Romero Nunes zeigt mit ‹Empusion›, wie man so lustig, böse und virtuos mit Geschlechterklischees und dem guten alten Sexismus spielt, dass sich Genderdebatten und bestens aufgelegtes Entertainment Gute Nacht sagen.

Süddeutsche Zeitung

Selten war eine gegengeschlechtliche Rollenbesetzung auf dem Theater stimmiger, zwingender, erhellender.

NZZ

Ein anrührendes, unsentimentales, von ernsten Tönen getragenes Theaterereignis der Sonderklasse.

bajour

‹Empusion› ist unverkennbar ein Nunes-Stück: voller Slapstick und Metatheater.

bz Basel

Es ist der Abend der grossen Schauspielerinnen

Theater der Zeit

Der Abend ist so klug, die Zuschauer zum Denken anregen, es ihnen aber nicht abnehmen zu wollen.

Welt

Wirklich grandios

Deutschlandfunk Kultur

Ein entspannter, launiger Abend zum langen Abschied vom Patriarchat.

nachtkritik.de

Ein starker, tiefgründig-witziger und berührender Theaterabend.

Stadtschreiber

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