Interview mit Martin Zimmermann
«Das Beobachten von Menschen im Alltag ist mein Kerngeschäft» – Ein Universum der grotesken Figuren
Dieses Interview hat Mirjam Hildbrand geführt, es ist erschienen in einem Sonderheft (dem ‹Arbeitsbuch›) der Fachzeitschrift ‹Theater der Zeit› im Juni 2022.
Der Schweizer Künstler Martin Zimmermann ist vieles in einem: Performer, Clown, Regisseur, Choreograf, Bühnen- und Kostümbildner, Handwerker, Tüftler und Erfinder. Er wuchs in Wildberg, einem kleinen Dorf im Zürcher Oberland auf, lernte beim Zirkuskünstler Jacky Lupescu im Nachbardorf jonglieren, entwickelte bereits als Jugendlicher eigene Shows und hatte sogar eine Managerin, Später schloss er eine Ausbildung als Dekorationsgestalter in Zürich ab und absolvierte zu Beginn der 1990er Jahre die renommierte französische Zirkusschule ‹Centre National des Arts du Cirque (CNAC)›. Mit dem Abschlussstück seiner Klasse, ‹Le cri du cameleon› (Choreografie Josef Nadj, 1995), tourte er 1996 durch die Welt. Die Inszenierung markiert im französischsprachigen Kontext einen Wendepunkt. Mit ihr etablierte sich der Begriff «cirque contemporain» (Zeitgenössischer Zirkus) – bis dato war von «Nouveau Cirque» (Neuer Zirkus) die Rede gewesen. Ende der 1990er Jahre kehrte Zimmermann in die Schweiz zurück, wo man ihn seither mit Stücktiteln kennt wie ,‹Gopf› (1999), ‹Hans was Heiri› (2012), ‹Hallo› (2014), ‹Eins Zwei Drei› (2018) und vielen mehr. Zurzeit ist er auf Tour mit seinen Produktionen ‹Danse Macabre› (2021) und ‹Wonderful World› (mit Kinsun Chan, 2022). Seine international und jeweils über mehrere Jahre tourenden Inszenierungen wurden in der Schweiz als Tanzproduktionen gefördert und meist auch so vermarktet, wohingegen sie im internationalen Kontext grösstenteils als (Zeitgenössischer) Zirkus galten. 2021 erhielt Martin Zimmermann für sein über zwanzigjähriges, erfolgreiches Bühnenschaffen den Schweizer Grand Prix Darstellende Künste/Hans-Reinhart-Ring, wobei seine Arbeit als «visuelles Theater, das in kaum eine Schublade passt» beschrieben würde.1
Mirjam Hildbrand: Martin Zimmermann, hier in der Schweiz haben wir also Mühe, dein Schaffen in eine von den uns geläufigen Schubladen zu stecken, wir ringen nach den richtigen Begriffen und Bezeichnungen für das, was du machst. Wie würdest du deine Arbeit denn beschreiben?
Martin Zimmermann: Für mich ist es klar, es ist eine Mischung aus Zirkus, Tanz und Theater – es ist halt Martin Zimmermann Theater. (lacht) Der Zirkus ist und war schon immer spartenübergreifend und unglaublich innovativ. Und aus der Verbindung meiner beiden Ausbildungen habe ich ein eigenes Universum geschaffen. Ich habe den Zirkuskörpern von Anfang an ihre Zirkusobjekte und Zirkusgeräte entzogen und diese Körper in einen Bühnenraum gestellt. Meine Bühnenräume sind immer schon da, bevor wir mit den Proben beginnen. Sie sind wie Verordnungen, sie bilden einen Rahmen mit klaren Regeln.
Mirjam Hildbrand: Deine Räume sind immer ganz eigene Architekturen mit beweglichen Wänden, doppelten Böden, schiefen Ebenen, Türen, Klappen, Fallgruben und vielem mehr. Es sind herausfordernde Spielräume.
Martin Zimmermann: Ja, die Räume bringen die Figuren in schwierige Situationen und werden für sie durch ihre Instabilität immer wieder bedrohlich. Im Kreationsprozess legen wir darüber hinaus manchmal für bestimmte Figuren zusätzliche Regeln fest, die sich aus dem Raum ergeben. In ‹Eins Zwei Drei› war zum Beispiel eine bestimmte Bodenfläche für eine bestimmte Figur wie Glatteis. Immer wenn sie diese Bodenfläche betrat, rutschte sie aus und verlor ihr Gleichgewicht. Es ist ihre Fragilität, ihre Unsicherheit und die permanenten Versuche meiner Figuren zu überleben, die mich beschäftigen. Manche Figuren versuchen dann auch, die Grenzen der räumlichen Verordnungen zu testen oder gar zu sprengen. So stehen die Figuren immer in einem Spannungsfeld zu den räumlichen Gegebenheiten in meinen Stücken.
Mirjam Hildbrand: Die Figuren deiner Stücke wirken immer fragil, scheinen skulptural, sie sind skurril, irgendwie düster und: Sie bringen uns zum Lachen. In ‹Danse Macabre› sind es vier Figuren, du bist eine davon. Wie entstehen sie?
Martin Zimmermann: Die Figuren entstehen mit dem Konzept für ein neues Stück, also lange Zeit bevor wir mit den Proben beginnen. In dieser Phase habe ich dann Künstler:innen für die einzelnen Figuren im Kopf – ich mache nie Castings. In meinen Stücken ist auch niemand ersetzbar, ich mache keine Inszenierungen, die ich dann einfach mit einem anderen Cast aufführen könnte. Das ist für den Tourbetrieb natürlich eigentlich ein Albtraum. Um mich herum ist über all die Jahre eine Künstler:innenfamilie zusammengewachsen, die sich manchmal noch um ein weiteres Mitglied vergrössert. Mit diesen Künstler:innen verbindet mich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit, die uns ermöglicht, gemeinsam weit zu gehen in den Kreationen. Sie kennen mein Universum und meine Sprache gut und nehmen darin ihren eigenen Platz ein. Aber das Finden der Figuren ist wie ein minuziöses Herausschälen, ein unendlich langsamer Prozess. Wenn man die Figuren dann gefunden hat, fühlt es sich an wie ein Befreiungsschlag. Doch ist der Prozess dann nicht einfach vorbei, man muss konstant an den Figuren und an dem Raum, in dem sie sich befinden, weiterarbeiten.
Mirjam Hildbrand: Wie sieht denn deine Arbeit während der Proben ganz konkret aus?
Martin Zimmermann: Vor den Proben kreiere ich nicht nur mit dem Konzept des Stücks, sondern auch mit den Kostümen die Silhouetten der Figuren. Und im Kreationsprozess mit den Performer:innen, der immer mindestens drei Monate dauert, versuche ich, mittels Improvisationen die Figuren herauszuschälen, sie quasi aus den Performer:innen herauszuholen. Die Fragen sind dabei immer die gleichen: Wie bewegt sich diese Figur, wie geht sie, was für Töne und Geräusche gibt sie von sich? Ich spüre dann, was stimmig ist für eine Figur. Ich merke, dass beispielsweise die Stimme noch zu tief ist oder wir noch nach einer ganz anderen skulpturalen Form der Figur suchen müssen, die vielleicht im Kontrast zum Körper steht. Das ist mein Arbeitsfeld. Und für mich macht ein Regisseur dann gute Stücke, wenn schlussendlich alle Figuren, so verschieden sie sein mögen, auf der gleichen Höhe sind. Ich kreiere kein Stück, in dem manche besser sind als andere, nein, die Figuren brauchen sich immer gegenseitig. Und die Figuren haben keinen belehrenden Charakter, sie sind surreal, grotesk, eigenartig, sie lassen sich nie ganz fassen oder verstehen. Aber vielleicht berühren sie uns und öffnen etwas in uns.
Mirjam Hildbrand: Diese Arbeit an den Figuren, die du beschreibst, würde man nicht unbedingt mit dem Zeitgenössischen Zirkus assoziieren, der sich ja eher durch die Abkehr vom Narrativen und von Figuren auszeichnet.
Martin Zimmermann: Am Anfang meiner Laufbahn war das für mich auch nicht nur einfach, denn es fühlte sich damals so an, als ob dieses «Figurentheater» irgendwie passé ist. Aber es ist meine Sprache, meine Welt. Ich forsche immer nach diesen Figuren an den dunklen Rändern, nach diesen grotesken Figuren, die mich zum Lachen bringen. Jacques Tati, Charlie Rivel, Grock, Charlie Chaplin, Buster Keaton – ich fühle mich mit dieser Familie der tragikomischen Künstler sehr verbunden. Diese fantastischen Clowns haben mich geprägt und sind bis heute eine grosse Inspiration.
Mirjam Hildbrand: Bedeutet für dich deine Arbeit oder vielmehr deine Arbeit mit diesen Figuren auch, die Welt erträglich oder zumindest erträglicher zu machen?
Martin Zimmermann: Ja, meine Figuren handeln immer von menschlichen Existenzen. Und in meinen Stücken verhandle ich mein Erleben, meine Wahrnehmung der Welt. Schon als Kind beobachtete ich immer Menschen, wie sie gehen und gestikulieren. Was sie sagten, das habe ich gar nicht so wahrgenommen, ich konnte nicht gut zuhören. Es ist, als ob ich mir da einen Filter zugelegt hätte, ohne den ich vielleicht in einer Depression versunken oder gar nicht mehr hier wäre. Denn die Welt ist so gewaltvoll, und Menschen können so unglaublich hart zueinander sein. Und wenn man für sich keine Umgangsform damit findet, ist dies kaum zu ertragen. Mir hilft der Humor – er ermöglicht mir, einen Schritt zurückzutreten und die Menschen mit etwas Abstand, als Silhouetten zu sehen. Und er ermöglicht mir auch einen liebevollen, zärtlichen Blick auf die Menschen. Durch den Humor kann ich all diesem Negativen wieder etwas Positives gegenüberstellen. Humor ist für mich also ein zentraler Motor, und ich wüsste nicht, was ich geworden wäre, hätte ich nicht mein eigenes Universum und meinen Beruf gefunden. Dafür bin ich sehr dankbar.
Mirjam Hildbrand: Nach deiner Ausbildung an der Zirkusschule in Frankreich bist du in die Schweiz zurück gekehrt, obwohl Zirkus hierzulande damals von der Kulturförderung nicht berücksichtigt wurde, ja sogar ziemlich verpönt war. Viele andere sind aus diesem Grund in Frankreich geblieben – du hast dich aber dennoch zurück in die Schweiz gewagt.
Martin Zimmermann: Ja, aber die Rückkehr war schwierig. Ohne die Zusammenarbeit mit verschiedenen, in Zürich beziehungsweise im geförderten Tanz- und Musikbereich verankerten Künstler:innen hätte ich es in der Schweiz nicht geschafft. Jemand wie ich, mit einer Dekorationsgestalter-Ausbildung und Abgänger einer Zirkusschule, ich hätte null Chancen gehabt. Ich hätte selbstverständlich trotzdem nach Wegen gesucht, meine Arbeit zu machen – ich konnte und kann ja gar nicht anders. Aber diese Stigmatisierung und Abwertung des Zirkus – und übrigens auch des Clowns – hat mich geprägt. Der Zirkus sei nicht genügend intellektuell und nicht genügend dies oder das. Aber man muss ihn gar nicht hinterfragen, sondern sollte sich einfach freuen, denn es ist grandios, dass es ihn gibt. Für mich sind Zirkuskünstler:innen wie Punks. Sie leben ein Parallelleben, das unser Leben und unsere Gesellschaft auf eine andere Weise widerspiegelt und reflektiert.
1Schweizer Kulturpreise: Martin Zimmermann, Skurrile Bühnenwelten, Schweizer Grand Prix Darstellende Küns te/Hans-Reinhart-Ring 2021, https/ /www schweizer kulturpreise.ch/ awards/de/ho me/ darstellende-kuens te/ dk-archiv/dk-2021/martin-zimmermann html, Zugriff am 19.04.2022
Martin Zimmermanns Stück ‹Ciao Ciao› – ein Zirkusabenteuer für die ganze Familie – hat am 1. Dezember im Schauspielhaus Premiere. Mehr