Luft nach oben - Kolumne von Anne Haug

Portrait der Autorin Anne Haug

Mitbestimmung

Offstage, hinter den Bühnen, Produktionen und Proben erarbeitet die Basler Compagnie neue Arbeitsformen. Denn uns verbindet der große Wunsch auf Augenhöhe zu arbeiten. Wir wollen die gängigen, momentan auch vielerorts kritisierten Strukturen des Theaterbetriebs abschaffen, respektive neu erfinden. Unter dieser Prämisse sind wir alle in Basel angetreten. Angefangen bei offengelegten Löhnen und einem damit geschlossenen Gender Pay Gap, sind wir dabei ein Mitbestimmungsmodell zu entwickeln und in die Praxis umzusetzen. Neben der künstlerischen Arbeit haben sich verschiedene Gruppen organisiert, um sich mit Themen wie Partizipation, Probenstrukturen oder Feedbacktools zu beschäftigen. Das Ensemble inszeniert sich selbst, wir hinterfragen Hierarchien und den nach wie vor herrschenden Feudalismus im Stadttheater.

Soviel zur Zielsetzung. Aber es ist viel leichter herkömmliche Machtverhältnisse nur zu kritisieren, als diese dann wirklich auszuhebeln. Innere Strukturen bedingen äussere: wir können das eine ohne das andere nicht verändern. Wir müssen uns erstmal selbst neu denken und aneinander anpegeln. Denn wenn das Oben Verantwortung abgibt, dann muss das Unten sie annehmen. Und mit dieser neuen Verantwortung, dieser neuen Haltung umzugehen ist gar nicht so einfach. Aus einer untergeordneten, defensiveren Position zu agieren ist auch eine Form der Freiheit durch Klarheit, denn es ist eindeutig, wohin die Schuld geschoben werden kann, wenn Dinge schief laufen. Unten kann gegen und im Widerstand arbeiten, aktiv werden, oder sich darüber aufregen, sogar streiten, denn es weiß, wogegen es gerade kämpft.

Wenn die Luft nach oben aber keinen Widerstand mehr bietet, was passiert dann? Fliegen wir als Künstler:innen, als Gesellschaft ins Unendliche oder ist diese Decke über einem eigentlich eine Art Kindersicherung? Brauchen wir nicht Grenzen, um uns daran abzustossen, sie zu erweitern und neu abzustecken? Und ist die Energie, die beim Auf- und Gegenprall entsteht nicht genau die, die wir alle brauchen um aktiv zu werden und es auch zu bleiben?

Der Mitbestimmungsbegriff hat einen harmonischen Beigeschmack. Das vorbildliche Heldentum, das der Versuch mit sich bringt, lädt dazu ein, sich schon an sich ganz gut zu finden. Es fällt auch gar nicht leicht zu streiten, denn Oben und Unten sind sich doch sehr einig, was sie nicht mehr wollen. Nur was wollen wir dann? Da wir die Zukunft neu erfinden müssen, brauchen wir viel Zeit.

In der Schauspielschule bat uns ein Schauspieldozent, uns mit dem Gesicht zur Wand zu stellen, den Körper mit der Wand verschmelzen zu lassen und dann durch die Wand hindurchzudringen. Es war ein kollektives Scheitern meines Schauspieljahrgangs: wir konnten uns einfach nicht vorstellen, was der Dozent damit meinen könnte. Zugleich mussten wir ganz furchtbar lachen, weil wir uns vorstellten, dass wir alle, wie Harry Potter, auf der anderen Seite der Wand hervorkommen. Und uns gegenseitig dazu gratulieren, dass es uns gelungen ist zum Astralkörper zu werden.

Heute verstehe ich die Übung. Es ging darum, Widerstand zu akzeptieren, nicht in Konkurrenz mit ihm zu treten, sondern eins damit zu werden. Wenn der Widerstand, wie die Betonwand der Schauspielschule, sichtbar ist, wenn oben im Betrieb ein:e machthungriger Chef:in sitzt und autoritär befiehlt, ist er viel einfacher zu erkennen. In abgeflachten Hierarchien herrscht eine andere Opposition. Da sind noch unbekannte, unsichtbare Wände, wie sie post-Corona in vielen Restaurants stehen. Plastikglasfallen die nur darauf warten, dass Gäste auf dem Weg zum Klo dagegen laufen. Und genauso müssen wir in der Gesellschaft und bei uns im Theater die neuen Hürden und Hindernisse erstmal finden und oft ist es dann schon zu spät.

Doch wie bei allen Diskursen, die wir gerade führen, geht es doch um den Versuch mit neuen Wegen an ein noch unbekanntes Ziel zu kommen und damit neue Räume zu schaffen. Vom Theater in die Gesellschaft und vice versa. Und wenn die Bemühungen ernstgemeint sind, müssen wir alle sehr viel lernen, flexibel sein, voller Liebe Fehler machen und auch scheitern dürfen. Die Basler Compagnie macht das gerade. Zum Glück. Glaswände sind so viel besser – denn man sieht auch durch sie hindurch.

 

Anne Haug ist Schauspielerin am Theater Basel sowie im Film. Zudem arbeitet sie als freie Autorin für Film und Theater. In der Spielzeit 20/21 ist sie die Hausautorin im Rahmen des Stück Labor. Anne Haug kommt aus Basel.

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