Geisterbeschwörung als Bühnenhandwerk

Bis auf eine Ausnahme sind alle Schauspieler:innen der Uraufführung der Physiker tot. Was von ihnen bleibt, sind verstreute Spuren: Filme, Memoiren, Interviews, Tonaufnahmen, Anekdoten und rare Fernsehaufzeichnungen von Theaterproben.
Bei unserem Ansatz der Rekonstruktion der Zürcher Inszenierung von 1962 stellen diese Hinterlassenschaften, neben dem damaligen Regiebuch, das außer dem Text und in ihm notierte Pausen die verabredeten Gänge und Positionen der Spielenden enthält, das Material unserer Beschwörung dar. Theater ist immer der Versuch, etwas zunächst Lebloses -  ein Stück, einen Text, eine Rolle - auferstehen und den Geist dieses Materials und seiner Zeit physisch werden zu lassen. Schauspieler:innen sind Medien in dieser - materialistischen - Séance. Auch begleiten die Werke des klassischen Kanons Legionen von Toten, Generationen von Darsteller:innen, die sie durch die Jahrhunderte hindurch an unzähligen Orten der Welt interpretiert haben. Wer etwa als Medea auf der Bühne steht, weiß um die Reihe ihrer Vorgängerinnen.
Bei unserem Versuch aber spielen wir nicht nur die Rollen, sondern auch die Spieler:innen, die sie 1962 in Zürich verkörperten. Hieraus ergeben sich interessante Probleme.
Wie unterschiedliche Paraphernalien in der Ritualmagie steht unseren Basler Akteur:innen je ungleicher Stoff zur Verfügung, der in die Figurenarbeit einfließt. Von Gustav Knuth beispielsweise, der in Zürich den Newton spielte, findet man neben seinen Tätigkeiten in Fernsehen und Kino auch Anschauungsmaterial in Form einer vom SRF dokumentierten Hauptprobe. Von Hanna Hiob hingegen, die Schwester Monika Stettler gab, lässt sich auch nach längerer Recherche nur eine Tonaufnahme eines Gedichts ihres Vaters Bertolt Brecht auf Youtube aufspüren. Unser Spieler des Newtons gerät also, ob des virtuosen Spiels des Großkünstlers Knuth in Genialitätsstress und die Gefahr der bloßen Imitation, was das lebendige Denken auf der Szene zuschüttet. Unsere Spielerin der Stettler/Hiob indessen, muss sich ihr Vorbild allein mittels einer Stimme aus einer fernen Zeit und Mutmaßungen formen, die auf versprengten Einträgen aus dem Internet beruhen. Ähnliches gilt für andere Haupt- und Nebendarsteller:innen. Das Spiel der Therese Giehse lässt sich umfänglich beobachten – allerdings in einem Fernsehspiel von 1964, das auf einer Münchner Neuinszenierung beruht und in dem die Kolleg:innen für die Kamera und nicht für die Bühne agieren. Über den Statisten mit Sprechrolle, der als Oberpfleger Uwe Siewers auftrat, konnte unser Darsteller buchstäblich gar nichts finden. Zentrale Methode unserer rekonstruktiven Geisterbeschwörung wurde also das große Reinrechnen – ein spielerisches Füllen von Leerstellen und blinden Flecken, sowie eine gesunde Skepsis vor dem schlichten Kopieren des früheren Bühnengeschehens, wo es auf Film konserviert ist.

Warum aber überhaupt in dem konventionellen Setting von 1962 spielen? In einer anachronistisch anmutenden Spielweise und seinen überkommenen Implikationen, was etwa die Geschlechterverhältnisse betrifft.
Fetischisieren wir damit die gute alte Vergangenheit? Betreiben wir rückwärtsgewandte Nostalgie? Nein. Indem wir das Drama in seiner Historizität ernst nehmen, machen wir den Unterschied zur Gegenwart kenntlich. Zumindest versuchen wir es.

Und warum nun die Physiker in kollektiver Regie?
In unserer Setzung einer Wiederaufführung liegt der Fokus notwendigerweise auf dem Spiel. Wir wollten den Autor mit unseren gemeinsamen spielerischen Lösungen konfrontieren, statt mit inszenatorischen Auf- und Eingaben. Wir haben nichts gegen Regie. Aber in diesem Fall auch nichts dagegen, in Ruhe unsere Arbeit zu machen: Miteinander das Spielen organisieren. Mit Hilfe der Gespenster der Vergangenheit.

 

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Tobias winter

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Eine der kuriosesten Inszenierungen die ich je gesehen habe. Zusammen mit der Reaktion des Publikums und dem Making off Film, lässt sie einen sprachlos zurück. Darsteller*innen die sich, in für sie fremde Spielweisen einfühlen, ohne sie zu diskreditieren. Ein Publikum was ihnen dabei zuschaut und sich doch in dem Stück wiederfindet. Grandios.