"Was willst Du überhaupt?"

 

Kris Merken: Die ‹Sommergäste› wurden 1904 zum ersten Mal aufgeführt. Gorki stellt den Teil der russische Intelligenzija dar, die aus den demokratischen Schichten hervorging und nach Erreichen einer bestimmten Höhe die soziale Stellung verlor. Der Mittelstand scheint sich heute in einer ähnlichen Situation zu befinden. Wiederholt sich die Geschichte?

Dietmar Dath: Gorki wollte sagen: «Diese Leute müssen sich ändern.» Aber das Publikum verstand eher: «Diese Leute sind interessant», weil das Stück für die gemeinte Kritik zu nuanciert, zu gut geschrieben ist. Das Drama redet seinen Zweck kaputt. «Diese Leute», Deklassierte aus der Intelligenz, waren schon damals von gestern. Die Konzentration des Kapitals ebnet ihre paar Privilegien seit etwa 1900 immer weiter ein. Aber sie sind immer noch da. Im Gegensatz zu Gorkis Zeit zeichnet sich heute nichts Besseres ab, kein Sozialismus. Also kann man nur in der Art und Weise, WIE diese Leute von gestern sind, nach Aussichten suchen, per Negation. Gorkis Zweck geht erst jetzt, aber nicht mit Gorkis Stück. Man muss es ändern.

KM: Bei Gorki gibt es das Versprechen auf eine bessere Zukunft. In Deiner Aktualisierung scheint es ein solches Versprechen nicht zu geben. Warum?

DD: Die Zukunft stand damals gemäss den Kräfteverhältnissen (Arbeiterbewegung, akut schwache Kettenglieder im Imperialismus usw.) auf dem Programm. Heute erkennt man sie nur negativ in der Kontur des Weltniedergangs.

KM: Du verlagerst das Geschehen nach Davos. Was hat es damit auf sich?

DD: In Davos treffen sich die vermeintlichen Köpfe des besagten Weltniedergangs. Aber er braucht gar keine Köpfe. Er passiert einfach. Der Widerspruch zwischen der Leere in jenen Köpfen und ihrem Symbolwert ist humorhaltig. Der Ort Davos drückt diesen Humor als malerische Beschaulichkeit aus.

KM: Die Grundsituation ist komisch: Du zeigst Menschen, die Digital Detox machen wollen, aber von den Devices nicht loskommen. Ich lese das Stück auch als Parabel. Es zeigt die Auswirkungen der digitalen Transformation auf unsere Arbeits- und Lebenswelt. Würdest Du dem zustimmen?

DD: Die «digitale Transformation» ist eine Ideologie. Man kann die verschärfte Ausbeutung, die jetzt stattfindet, auch anders begründen als mit «die Technik will es so». Wenn die Monopole ihren Terror nicht mit Technik begründen, dann mit Nachhaltigkeit oder Ukraine oder Horoskopkäse. Aber die Leute im Stück nehmen die digitale Ideologie ernst und arbeiten sich daran ab. Der dramatische Konflikt ist dann einer zwischen Warwara, der einzig Lernfähigen, und den Lernunwilligen.

KM: Welche Rolle spielen Gefühle?

DD: Ein Beispiel: Wenn die Rapperin allein ist mit ihren Reimen, ohne Fans, gibt es bei ihr plötzlich Gefühle, sonst nicht. Gefühle sind die Form, wie Allgemeines im Besonderen erwacht, wie es sich ahnt – eben: fühlt. In einem verfaulenden Gemeinwesen ist das kaum
möglich. Shakespeare erzählt im ‹Lear›, wie isoliert das Gefühl der Aufrichtigen im niedersinkenden Feudalismus ist. Das gilt auch jetzt, im niedersinkenden Monopolkapitalismus. Die stillen Stellen im Stück sind die seelisch lebendigen. Die seltenen.

KM: Die Frage zielt auch auf die psychologische Motivierung der Figuren ab. Sind das Figuren? Sind das Charaktere? Oder sind das Träger von Haltungen?

DD: Es sind Masken, wie immer im Theater. Aber neuerdings tut das Maskentragen weh, weil Masken nicht gut sitzen, wo die Leute nicht mehr eindeutig sein dürfen wie ein Maskentypus, sondern flexibel sein sollen. Der Schmerz der zu kleinen Maske erzwingt die Beredtheit der Charaktere.

KM: Gorki steht in der Tradition des von Tchechow’schen Realismus. Die psychologische Motivierung spielt im sozialistisch weiterentwickelten Realismus bei Gorki aber schon eine andere Rolle. Ist diese Traditionslinie für dich relevant? Was ist ein zeitgenössischer Realismus?

DD: Realismus ist eine dramatische oder erzählende oder bildnerische Haltung, die in der Wirklichkeit zu Ergebnissen führt, wenn man Zwecke verfolgt. Realismus stellt nicht die Welt getreu dar (dafür gibt’s Naturalismus und Dokumentarismus), sondern Haltungen als Handlungsoptionen. «Gorki kam von Tschechow»: Wo man herkommt, da ist man schon nicht mehr. So kommen wir von Gorki: Seine Handlungsoptionen sind nicht drin, aber andere.

KM: Im Text gibt es einen Test, der Künstliche Intelligenz prüft mit der Frage «Was willst du überhaupt?» Was wäre deine Antwort?

DD: Ich will rausfinden, was los ist, und das Gefundene dann in der Absicht der Durchsetzung der Gerechtigkeit mit denen teilen und diskutieren, mit denen ich gedeihlich arbeiten und leben kann, mit Genossinnen und Genossen.

 

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