Theater ohne Publikum
Von der dramatischen Leerstelle
Fortschrittliche Theaterleute wollten noch vor einiger Zeit mit der Idee ‹Theater ohne Publikum› das Theater grundlegend verändern. Ein ‹Theater ohne Publikum› würde das überkommene, hierarchische Verhältnis zwischen Darstellenden und Zuschauenden endlich aufheben. Zuschauerränge wurden demontiert, Räume aufgerissen, Gebäude und Flächen zur theatralen Zwischennutzung umgewidmet. Ganze Städte waren Spielfläche, man bewegte sich bereits lose und lässig in immersiven Räumen. Theater als offener Raum, den alle teilen und aktiv bestimmen könnten, sollte Gegenwart werden. Am Theater Basel war alles vorbereitet, um ab September tagsüber das Foyer Public für alle zu öffnen.
‹Theater ohne Publikum›, wie wir es jetzt in der Pandemie erleben, hat mit diesen schönen Ideen nichts zu tun. Proben mit Maske und auf Distanz, dann das leere Foyer, die Sicherheitsabstände, Ansagen zu Testergebnissen von Darsteller:innen. Zu Anfang unserer Spielzeit 20/21, im Oktober, spielten wir am Theater Basel immerhin noch vor 420 Leuten auf der Grossen Bühne, 220 im Schauspielhaus. Im November wurden es 50, im Dezember 15 - jeweils angepasst an die Maßnahmen zur Offenhaltung des Detailhandels. Inzwischen ist unser schöner, grosser Live-Kanal geschlossen. Theater ohne Traffic ist einfach nur öde, so lahm wie Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, iPhone.
Theater unter Pandemiebedingungen lässt sich epidemiologisch ziemlich sicher durchführen, bringt aber wenig Freude und wenig neue Erkenntnisse. Theater hat massentaugliche und schnelle Konkurrenz. Digitale Formate sprießen. Deutlich wird zurzeit immerhin, dass Theater als Teil der Freizeitgestaltung durchaus vermisst wird. Dabei rangierten die Theater in den Begründungen für Corona bedingte Schließungen meist unter Massagepraxen und religiösen Angeboten. Für den professionellen Theaterbetrieb reicht der Anspruch und Auftrag aber wesentlich weiter. Die Riesen-Schiffe, im Gebäude der Klassik oder der souveränen Architektur der 70er Jahre stehen ja nicht als leere Repräsentationshüllen in den Zentren der Städte. Sie bieten genau den öffentlichen Raum, den die gepriesene offene Gesellschaft braucht, um ihre Werte und Konflikte auszuhandeln. Sie stehen in den Zentren, weil sie das urbane Herz ticken hören wollen. Die Theater brauchen genau diesen Resonanzraum mit allen Themen, Fragen, mit Kritik und Widersprüchen. Man muss darauf hoffen, dass diese Bedeutung von Zugang zu Kultur und von Kunstfreiheit vor allem auch in den Kulturdepartements vertreten wird, in denen man eine Art Lobby für Kultur vermuten könnte.
Aber nun sitzen wir erst einmal eine Zeit gemeinsam im Loch. Die ganz grosse Leere. Das Leben ohne Konsum und Ausgang. Das Leben ohne Fußgängerzone, ohne Hobbies, vielleicht ohne Überarbeitung. Das Grauen, das ungestaltete Leben. Darauf immerhin war vorbereitet, wer regelmässig ins kapitalismuskritische Theater ging.
Theater ohne Publikum ist übrigens Alltag für viele Theatermitarbeiter:innen, darunter auch Dramaturg:innen. Wir planen Spielpläne für eine imaginierte Zuschauer:innenschaft, hinein in eine ungewisse Zukunft von 1-3 Jahren. Wir lesen Stoffe von bekannten und völlig unbekannten Autor:innen, adaptieren Romane, wir nehmen Tagespolitisches und historisch Abwegiges zur Kenntnis. Vor allem proben wir. Stundenlang, tagelang sitzt man in dunklen Räumen und schaut kleinteiligen Proben zu, bei denen die Kunst nicht vom Himmel oder aus dem Schnürboden fällt. Sie wird tatsächlich hart erarbeitet, in unzähligen Wiederholungen, Überlagerungen und Kritikstufen bis tatsächlich Besonderes auftaucht. Für einzelne Momente der Kunst gibt es viele lange Phasen von Destruktion und kläglich empfundenem Dasein, Kämpfe um nichts und um Notwendigkeiten, bis eine Entscheidung fällt. Theaterarbeit ist oft völlig unheroisch, dafür aber praktisch und beziehungsorientiert: harte Selbstbefragung, Mut zum Scheitern, Ausprobieren, Aushalten, Auslösen von Emotionen, in allen Phasen und in allen (Über-) Dosen, einfachen und komplexen. Stellvertretend für alle anderen. Es ist ein Spiel mit den eigenen Grenzen und den Grenzen der anderen, die man natürlich immer imaginiert, in der Erinnerung, in der Projektion auf die Figur, auf die Figur der anderen, auf die Aufführung und so fort. Scham, Freude, Wut, Gier, Ungewissheit. Das sind alles Dinge, die man im Theater ausspielt und sucht und findet und verwirft, um der gemeinsamen Sache, den gemeinsamen Lebensgrundlagen am Ende doch ein Stückchen näher zu kommen. Ein zutiefst menschliches Unternehmen, Suche nach kommunikativem Anschluss.
«Ein Mann geht durch den Raum während ein anderer Mann ihm dabei zusieht», beschreibt Peter Brook in seinem Klassiker ‹Der leere Raum› die unauflösliche Beziehung zwischen Performer:in und Zuschauenden, – auch wenn es Menschen mit Masken sein werden.
Ein Beitrag von Inga Schonlau, Schauspiel-Co-Direktorin. Basel, 8. März 2021
Die Arbeit am Theater Basel geht weiter, für die Zeit, in der wir endlich wieder öffnen können: Mitarbeiter:innen aus ganz unterschiedlichen Abteilungen berichten, wie die Arbeit unter Pandemiebedingungen weitergeht und was sich verändert hat. Wir freuen uns auf die Begegnung in der sozialen Realität!
Ich liebe es, diese wegzuspielen, um mit dem Publikum in direkten Kontakt zu kommen – Fiktion und Komplizenschaft in Sekunden.
Und auf ein Schlag verwandelte sich ‹die 4. Wand› in eine riesige, bleierne, immer grösser werdende Mega-Mauer.
Eine Mauer, die alles in den Schatten stellt.
Kein Kontakt.
Keine Komplizenschaft.
Kein Publikum.
Ein echoloses, gemauertes grosses Schwarz.
Aber der Tag wird kommen – wie damals beim Berliner Mauerfall!
Eine grosse Wiedervereinigung!
Die Scorpions werden ‹Wind of Change› spielen, die Türen und Räume öffnen sich und die Menschen haben sich wieder...
PS: In meinen Träumen seid auch ihr; im Pyjama!
Allerdings sind das Ausnahmesituationen, die, weil sie Ausnahmesituationen sind, eine Wertschätzung bekommen. Im Grunde unterscheidet sich rein äusserlich nichts zwichen diesen Momenten nach einer Vorstellung und meinem Moment jetzt nach keiner Vorstellung. Nur, dass es doch komplett anders ist.
Dieser Raum sollte nicht leer und kahl sein. Dieser Raum sollte leben. Die Stille nach einem Sturm ist eine Stille, die dennoch Leben beinhaltet. Die Stille des Raums, den ich heute betrete, beinhaltet kein Leben, sondern die blosse Erinnerung daran.
Schwermütig und trotzdem mit einer gewissen Vorfreude, weil ich weiss, wie es doch sein kann, verlasse ich das Schauspielhaus. Bald wird es wieder anders sein. Bald.