Stückeinführung Stückeinführung

Stückeinführung

‹Stückeinführung› Info

Hallo, willkommen zum Einführungspodcast vom Theater Basel. Das hier ist ein Podcast für alle, die sich unterwegs informieren möchten über unsere Stücke auf der grossen Bühne und im Schauspielhaus. In dieser Folge sprechen wir über das Stück ‹Un Sentiment de vie – ein Lebensgefühl›. Geschrieben wurde es von Claudia Galéa, gespielt wird es von Anne Haug und Regie führt Emilie Charriot, dazu gleich mehr. Ich heisse Nadja Camesi und mir gegenüber sitzt Inga Schonlau, Schauspieldramaturgin und Co-Direktorin am Theater Basel. Hallo Inga!
Hallo

Nadja:
Dieser Titel ‹Un sentiment de vie – ein Lebensgefühl›, der spannt ja erst mal einen sehr weiten Bogen. Worum geht es denn überhaupt in diesem Text?

Inga:
Un sentiment de vie ist eigentlich das, wonach Claudine Galéa als Autorin so ein bisschen auf der Suche ist und das ist aber nichts, was wir nur mit ihr verbinden, sondern eigentlich kann man bei der Frage nach dem Lebensgefühl auch auf sich zurückgreifen und einfach danach fragen: Was ist das Lebensgefühl, das mich bestimmt, das also die verschiedenen Episoden, die ich erlebe, übersteht und was auch vielleicht manchmal nur zu Bewusstsein kommt, wenn es ganz besondere Ereignisse gibt, manchmal auch schwierige Ereignisse. In dem Text, mit dem wir es hier zu tun haben, geht es tatsächlich auch um den Verlust des Vaters. Claudine Galéa hat da schon einen grossen Teil auch biografisch geschrieben. Es ist eine Erinnerung auch an eine Zeit, als sie ihn gepflegt hat und eigentlich auch 18 Jahre später noch immer über diesen Verlust nachdenkt und ein bisschen auch darüber trauert, dass sie eigentlich verpasst hat, ihm ihre Zuneigung damals zu gestehen und darüber mit ihm reden zu können.

Nadja:
Wie geht denn die Autorin Claudine Galea dabei vor, wenn sie uns diese Geschichte erzählt?

Inga:
Sie erzählt in diesem Text von ihrem Vater, aber letztlich beginnt sie nicht mit der Geschichte ihres Vaters. Sie sagt im Gegenteil, es fällt ihr sehr schwer, überhaupt an diese Geschichte heranzukommen. Man muss bei diesem Text vielleicht auch wirklich wissen, dass er eine ganz besondere Entstehungsgeschichte hat. Claudine Galéa war lange Jahre als Artist Associate am Théâtre National de Strasbourg, ebenso wie Falk Richter, den viele vielleicht kennen, als Theaterautor und auch Regisseur. Und beide kennen sich zwar nicht gut, aber Claudine hatte durchaus einige Texte von Falk Richter gelesen, darunter auch den Text ‹My Secret Garden›. Und nun wurde sie gebeten, vom Direktor des DNS einen Text für ein Buch über Falk Richter zu schreiben. Und sie hat sich dann entschieden, nicht über Falk Richter zu schreiben, sondern an ihn zu schreiben und hat sich dabei von ihrem von seinem Text meist Secret Garden inspirieren lassen. Er nimmt nämlich auch die Familiengeschichte, seine Familiengeschichte auf. Eine Geschichte, die sehr stark auch noch immer vom Krieg geprägt ist in seinen Eltern und sein Vater sein Vater erlebt hat. Und Claudine Galéa nimmt letztlich den Begriff, den Titel und wie aus diesem Text. Sie ist das, macht es aber nicht heimlich, sondern sie macht das sehr offensiv. Es ist also in dem Sinne keine Collage, sondern sie sagt: Was bedeutet das für mich eigentlich? Und darin entdeckt sie starke Verbindung zu ihrer eigenen Familiengeschichte, auch wenn die sich an einem ganz anderen Land abspielen, nämlich nicht in Deutschland, sondern in Frankreich, noch dazu mit einer algerischen Herkunftsgeschichte ihrer, ihres Vaters.

Nadja:
Da hören wir doch gerne gleich mal rein.

[Ausschnitt aus dem Stück]

Nadja:
Inga, du hast gerade erzählt, dass der Text dieses Stücks mehrere Teile hat. Wie geht es denn weiter?

Inga:
Ja, der zweite Teil ist dann eben genau die Schilderung dieser Erinnerung an Ihren Vater. Im Grunde kann man sich das so vorstellen: Sie sitzt mit ihrem Vater im Auto. Er war damals sehr krank, bevor er gestorben ist. Sie hat ihn immer ins Krankenhaus gefahren und sie haben auch gemeinsam Musik gehört. Frank Sinatra, der der Lieblingssänger ihres Vaters war. Und ja, 18 Jahre nach dem Tod kommt ihr diese Erinnerung wieder. Und noch viele Dinge mehr. Nicht nur an ihren Vater, sondern an all das, was eigentlich sie mit ihrem Vater verbindet. Wie sie selbst in dieser Familie gross geworden ist. Insofern auch eine eine Verwebung einer persönlichen Geschichte und einer grösseren europäischen Geschichte. Denn es sind deutlich immer noch wieder Spuren des Krieges in ihrer Familie zu spüren. Und der dritte Teil, der ist dann noch einmal ganz anders in der Form. Der führt uns eigentlich dann von der Familiengeschichte hin zu der Frage, was sie jetzt als Autorin eigentlich antreibt. Auch ihr Sentiment de vie aber auch die Frage, was Sie eigentlich auch als Autorin hinterlassen kann. Was macht Sie verletzlich, wenn sie schreibt? Was sind die Themen, die sie aufgreift? Sie geht da sehr weit, auch in den politischen Gedanken. Sie führt viele an, die für ihre eigene Entwicklung als Literatin, als Künstlerin wichtig waren. Sie nennt Nina Simone, Sylvia Plath, Ingeborg Bachmann. Und damit macht sie auch ein bisschen so was auf wie eine grössere europäische Geistesgeschichte eigentlich, in der sie sich verortet. Und ähnlich wie im ersten Teil, kann man sagen, greift sie noch einmal auf eine andere literarische Vorlage zurück. In dem Fall ist es aber ein älterer Text aus dem 19. Jahrhundert, nämlich von Büchner. Büchners Bekannter ‹Lenz›. Wir kennen ja diese Geschichte von Lenz, der in den Wald geht, der die Berge besteigt, um überhaupt die Fülle des Lebens auszuhalten. Ein dramatisches Gedicht. Und auch in dieser Form nimmt Claudine Galéa den Text eigentlich sehr ernst als Vorlage. Sie selbst verfasst so was wie ein dramatisches Gedicht und geht den Erinnerungsströmen nach, geht den Gedanken nach, die sie hat. Genau in dieser Frage «Was macht mich als Autorin eigentlich aus? Wie kann ich mich bis zu einem gewissen Grad auch emanzipieren von den Dingen, die meine Herkunft eigentlich bestimmen?»

Nadja:
Du hast gerade schon grosse Frauen erwähnt als wichtige Inspiration für die Autorin, aber vermutlich auch das ganze Team, das hier am Werk war. Wir haben ein Stück und drei Frauen, die hauptsächlich verantwortlich zeichnen: Wine weibliche Autorin, eine weibliche Regisseurin und eine weibliche Schauspielerin, die ganz allein spielt. Kannst du uns zu den drei Personen etwas erzählen?

Inga:
Ja, sehr gerne. Ich glaube, da ist ein ganz tolles künstlerisches Team zusammengekommen, die sich jetzt auch teilweise neu kennengelernt haben. Claudia Galéa ist in Paris und Frankreich sehr bekannt. Sie schreibt nicht nur Theaterstücke, sondern sie schreibt auch Romane und auch Kinderbücher. Also hat sie auch ein breites Publikum. Und ihr gelingt es, glaube ich, in vielen ihrer Stücke, ihre sehr persönliche Geschichte zu etwas Grösserem zu machen. Also immer der Frage nachzugehen «Was geht uns gemeinsam etwas an?» Wie sind wir in dieser ganz grossen Geschichte, die oft bei ihr sehr konkret die europäische Geschichte ist, verortet, was prägt uns und wie können wir uns davon auch trotzdem immer wieder neue Lebensformen erarbeiten. Und dann ist da die Regisseurin Emilie Charriot. Wir haben ein bisschen so die Ehre, sie für das deutschsprachige Stadttheater zu entdecken. Sie hat auch bei uns jetzt zum ersten Mal überhaupt in Deutsch inszeniert. Das ist natürlich auch aufregend gewesen, überhaupt das zu versuchen, weil man natürlich als Regisseurin das Textverständnis unbedingt braucht. Es hat sich aber sehr schnell herausgestellt, dass trotzdem so eine Form von Wahrhaftigkeit sich auch überträgt, wenn man die Sprache nicht im Detail versteht. Also ein Satz, den sie ganz oft gesagt hat, war immer «c‘est juste». Es war sehr schön zu sehen, dass sie auch selbst natürlich froh war zu sehen, dass es da eine grossen Form von Verständigung geben kann, jenseits der gesprochenen Sprache. Und sie ist selbst Schauspielerin. Emilie Charriot hat also ihre Karriere selbst als Schauspielerin begonnen und man merkt, dass sie in ihrem Handwerk da wirklich sehr präzise ist. Und das, was es für diese Arbeit braucht, damit sich überhaupt so diese verschiedenen Erinnerungen und Ebenen des Spiels übereinanderlegen können, hat sie sehr, sehr konkrete Mittel, mit denen sie mit allen gemeinsam gearbeitet hat.

Nadja:
Und Anne, das ist unsere Anne Haug. Also vom Schauspielensemble hier, der Basler Compagnie, wahrscheinlich schon vielen bestens bekannt.

Inga:
Ja genau, sie ist ja sogar auch Baslerin. Insofern haben sie vielleicht viele auch schon als Jugendliche gekannt. Sie hat ihre Karriere tatsächlich hier bei uns im Spielclub begonnen, muss man sagen. Ein anderer Aspekt ist, dass Anne auch selber Autorin ist. Sie ist nicht nur Schauspielerin, sondern sie ist eben auch Schreibende. Und das ist natürlich für das Thema des ganzen Textes der Autorschaft sehr hilfreich, weil sie sich da natürlich sehr hineinversetzen kann. Man kann schon das nur noch mit Bewunderung anerkennen, wie sie diese Gedächtnisleistung vollbringen, diesen Text solistisch zu erinnern und so zu ihrem eigenen zu machen. Ich finde das wirklich ziemlich berührend und auch hat es bekommt eine Grösse, die wirklich sehr, sehr schön ist. Es ist auch gar nicht so oft gegeben, dass man so einen tollen Monolog hat von einer Frau für eine Frau, der sowohl intellektuell als auch emotional so fordernd ist. Und da ist jetzt sehr viel Schönes zusammengekommen. Die passten alle sehr gut zusammen.

Nadja:
Dann hören wir uns doch gerne noch einen Ausschnitt an aus dem Stück

[Ausschnitt aus dem Stück]

Nadja:
Wie du bereits gesagt hast – sowohl die Autorin als auch die Regisseurin sind eigentlich französische Muttersprachlerinnen. Das Stück ist hier in Basel aber auf Deutsch zu sehen. Die Uraufführung allerdings, die französische, hat auch ganz kurz vor unserer deutschen Erstaufführung stattgefunden.

Inga:
Richtig, so ist es. Anfänglich dachten wir sogar, wir würden die Uraufführung auf Deutsch machen. Aber dann kam das Théâtre de Bastille noch dazu. Und insofern ist es dort aufgeführt worden in einer ganz anderen Konstellation mit einer 78-jährigen Schauspielerin und zwei weiteren Schauspielern auf der Bühne. Ja, wir haben durchaus von dem Team auch gehört. Die wollten uns sogar besuchen und zur Premiere da sein. Das wird sich jetzt noch mal verzögern. Aber das ist natürlich schön, dass man so auch über Claudine Galéa da mit denen ein bisschen verbunden ist. Wir haben den Text zunächst tatsächlich im Französischen gelesen, da war er meines Wissens nach noch nicht mal übersetzt und haben uns gemeinsam dafür entschieden. Aber dann ist es an einen deutschen Verlag gegangen und es gibt dort natürlich Übersetzer. Das ist auch jemand, der durchaus bekannt ist Uli Menke. Zusätzlich haben wir aber natürlich schon in der konkreten Arbeit auch immer wieder an einigen sehr kleinen Stellen ein bisschen konkreter gearbeitet. Wir hatten auch eine Übersetzerin dabei, die die ganze Zeit der Regisseurin zur Seite war und übersetzen konnte. Das war auch durchaus eine sehr, sehr schöne Übersetzungsleistung, wenn man das ein bisschen prinzipieller versteht.

Nadja:
Nun ist Emilie bekannt dafür, dass sie reduzierte Bühnen einsetzt. Wie muss man sich diesen Abend denn vorstellen?

Inga:
Genau so! Im Zentrum steht der Text und die Schauspielerin Anne Haug. Ich habe ja schon gesagt, wie bravourös sie den darbietet. Es ist tatsächlich die nackte Bühne. Emilie arbeitet aber immer mit einem Lichtdesigner zusammen. Das ist Jan Godart, der ihre Arbeit auch schon länger kennt und versteht. Und insofern ist wirklich nichts als dieser pure Text und das Licht, das aber schon hilfreich ist, um bestimmte szenische Dinge zu verstehen. Ansonsten würde ich sagen, es ist schon so was wie ein Gespräch, teilweise auch ein Selbstgespräch von Anne als Schauspielerin, aber auch durchaus ein Gespräch, das er direkt ins Publikum geht, das jetzt nicht eine Antwort verlangt, aber doch eine Art direkten Dialog herausfordert, sodass man viel auch über sich nachdenkt, denke ich innerhalb dieser Zeit.

Nadja:
Du hast auch über die Musik schon ein bisschen erzählt. Frank Sinatras Lied ‹My Way›, das vorkommt im Stück. Und welche Funktion bekommt denn hier die Musik?

Inga:
Auch ‹Strangers in the Night› und ‹White Christmas›, ja, also das ist eigentlich erstaunlich, wie Musik sehr anwesend sein kann in einem Stück, ohne direkt eingespielt zu werden. Ich würde sagen, dass Musik einen grossen Anteil hat, weil eben die Erinnerung durch die Musik hervorgerufen wird. Das ist genau dieser Vorgang, den er beschreibt. Und auch wir haben in den Proben immer wieder sehr musikalisch gearbeitet. Das heißt, man hat oft erst nach einem längeren Hören von Musik, die wir auch sehr bewusst ausgesucht haben, mit dem Text eingesetzt. Wir haben alle Arten von Musik probiert, weil es eben genau um diese Ablagerungen auch von verschiedenen Emotionen geht. Aber letztlich ist eben Musik nur in der Vorstellung da.
Nadja:
Ja, vielen Dank für diese Einführung. ‹Un sentiment de vie› können Sie in dieser Spielzeit noch bis Februar 22 im Schauspielhaus sehen. Das Stück dauert eine Stunde 20 Minuten ohne Pause. Mehr Infos gibt es auf unserer Internetseite www.theater-basel.ch

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