Stückeinführung Giselle

Stückeinführung

‹Giselle› Info

Willkommen zum Einführungspodcast vom Theater Basel. In dieser Folge geht es um ein Ballettstück, das auf der Grossen Bühne zu sehen ist. ‹Giselle› sehen wir hier in Basel choreografiert von Pontus Lidberg. Es spielt das Sinfonieorchester Basel unter Leitung von Thomas Herzog und Benjamin Pope und es tanzt das Ballett Theater Basel. Einen Einblick in das Stück und seine Geschichte gibt uns Sarah Brusis Ballettdramaturgin am Theater Basel. Mein Name ist Nadia Camesi. Hallo, Sarah.

Sarah: Hallo, Nadja.

[Musik aus dem Stück]

Nadja: Was ist Giselle für ein Stoff und wie lässt sich der einordnen?

Sarah: Giselle ist einer der bekanntesten Ballettklassiker und wird auch heute noch häufig gemacht. Der Stoff ist ein Paradebeispiel für das romantische Ballett französischer Prägung. Typisch ist dafür zum Beispiel das traditionelle Ballet Blanc im zweiten Akt, der sogenannte weisse Akt, in dem die weiblichen Tänzerinnen alle weiss gekleidet sind und in mythisches, bläuliches Licht getaucht werden und als phantastische Wesen auftreten. Dabei agieren sie wie ein einzelner Körper als Corps de Ballet, und es wird die makellose klassische Balletttechnik und das Ideal der schwerelosen Ballerina auf Spitzenschuhen gefeiert. Andere Stücke mit einem solchen weissen Akten, zum Beispiel Schwanensee mit den weissen Schwänen oder La Sylphide mit den geflügelten Waldfeen. Und bei Giselle sind diese weissen Gestalten die Willis. Das sind Geisterbräute, die in der Nacht Männer verführen und in den Tod tanzen. Aber auch die Handlung von Giselle ist sehr typisch für diese Zeitepoche. Es geht um eine unmögliche und tragische Liebesgeschichte über die Klassengrenzen hinweg. Es ist eine Liebe, die erst in der übernatürlichen Parallelwelt eine Art Erfüllung erfährt. Uraufgeführt wurde Giselle 1841 im Ballett der Opera Paris zur Musik von Adolphe Adam, die bis heute verwendet wird. Vielleicht können wir hier gleich kurz reinhören. 

[Musik aus dem Stück]

Die ursprüngliche Choreographie stammt von Jean Coralli und Jules Perrot, und die Idee für die Handlung hatte Theophile Gautier, der sich von Heinrich Heines Beschreibung der Sage über die Willis inspirieren liess und zusammen mit dem Librettisten Jean-Henri Vernoy de Saint-Georges erarbeitete, Gautier davon ausgehend sein Libretto.

Nadja: Wenn wir jetzt schon beim Libretto sind, kannst du uns die Handlung kurz zusammenfassen?

Sarah: Es gibt ein Bauernmädchen Giselle und einen Herzog Albrecht. Und die beiden, die verlieben sich. Und um Giselle näher zu kommen, verkleidet sich Albrecht als Bauer und gibt sich auch als ein Bauer aus. Albrecht ist aber eigentlich mit der Adligen Bathilde verlobt. Eine arrangierte Ehe, wie das in dieser Zeit üblich war. Und auch bei Giselle gibt es noch ein anderer, der Interesse an ihr hat, oder in manchen Versionen ist es auch ihr standesgemässer Verlobter, Hilarion. Und von seiner Eifersucht getrieben spioniert Hilarion Albrecht hinterher und findet in seinem Haus einen Degen, der seine adlige Herkunft belegt. Unterdessen hat sich Giselle mit Bathilde angefreundet, ohne natürlich zu wissen, dass es sich um die Verlobte von Albrecht handelt. Es ist also eine wahnsinnig verstrickte Situation, die dann urplötzlich in der Katastrophe endet. Als alle Figuren aufeinandertreffen, offenbart Hilarion Albrechts wahre Identität und Albrecht steht zu seiner Verlobten und dies treibt Giselle in die Verzweiflung und vor lauter Herzschmerz bricht sie tot zusammen. Also traditionell stirbt sie tatsächlich an ihrem gebrochenen Herzen. In manchen Versionen ersticht sie sich auch mit dem Degen von Albrecht. Damit endet der erste Akt und das klingt in etwa so. 

[Musik aus dem Stück]

Der zweite Akt spielt in einer mit dem Jenseits verbundenen geisterhaften Parallelwelt. In der Nacht erweckt dort Myrtha, die Königin der Willis, alle ihre Geisterbräute und stiftet sie dazu an, Männer zum Tanzen zu verführen, bis diese vor Erschöpfung tot umfallen. Die Willis sind Frauen, die vor ihrer Hochzeit gestorben sind. Manche auch, weil sie der Tanzlust verfallen sind. Und so wird auch Giselle in den Kreis der Willis aufgenommen. Hilarion sucht schuldbewusst Giselle das Grab auf und wird dann natürlich von den Willis zum Tanzen angetrieben, bis er tot in den Weiher fällt. Wenig später kommt auch Albrecht vorbei und Myrtha will ihm das gleiche Schicksal antun. Doch Giselle kann ihn beschützen durch ihre grosse Liebe. Die beiden tanzen zärtliche Liebesduette und sind wiedervereint. Aber Giselle ist nicht mehr aus Fleisch und Blut, und sie kann zwar Albrecht vor dem Tod bewahren, aber bei Morgengrauen muss sie ihn zurücklassen. Und am Schluss wird er dann erschöpft und niedergeschlagen von Bathilde und seinen Leuten gefunden. Die Originalgeschichte zeigt also eine Zweiklassengesellschaft von Adel und Bauernvolk, in der eine wahre Liebe zum Scheitern verurteilt ist. Also so etwas wie die freie Wahl des Lebensgefährten mit erotischer Anziehung und aus Liebe gibt es hier nicht. Obwohl sich Albrecht und Giselle wirklich lieben, können sie in der realen Welt eigentlich nicht zusammen sein. 

[Musik aus dem Stück]

Nadja: Wie wurde dieses Stück denn bisher rezipiert? Wenn das so Der grosse Klassiker ist, muss es ja auch oft gemacht worden sein.

Sarah: Ja, genau. Obwohl es ja relativ altertümlich ist, haben sich auch zeitgenössische Choreographen und Choreographinnen dem Stoff immer wieder gewidmet. Heinz Spörli hat beispielsweise hier am Theater Basel 1976 eine Version kreiert, die ein relativ klassisches Setting wählte. Frederic Franklin kreierte 1984 eine Version für das Dance Theatre of Harlem in New York. Er verlegte die Handlung ins Louisiana im 19. Jahrhundert und thematisierte die Unterdrückung der Schwarzen. Eine sehr berühmte und erfolgreiche moderne Version stammt vom schwedischen Choreografen Mads Eck. Uraufgeführt wurde diese in Stockholm 1982. Er hat das klassische Setting im ersten Akt mehr oder weniger beibehalten, mit dem Bauernmädchen und dem Reichen. Der zweite Akt spielt aber nicht in einer Parallelwelt, sondern in der harten Realität einer Irrenanstalt, wo Giselle nach der tragischen Liebeserfahrung als Verrückte Rückzug findet und von Albrecht besucht wird. Auch Richard Wherlock hat sich dem Stoff schon gewidmet, 2011 hier am Theater Basel. In seiner Version wird Giselle im zweiten Teil von ihrem Vater ins Kloster geschickt, um wieder zu sich zu kommen. Sie bricht dann aber aus diesen engen Strukturen aus und nimmt ihr Leben schlussendlich selbst in die Hand. 

[Musik aus dem Stück]

Nadja: Und wie macht denn das jetzt Pontus Lidberg, versetzt er die Geschichte auch in unsere heutige Zeit? Was ist sein Ansatz? Und vielleicht was unterscheidet seine Version von klassischen Versionen?

Sarah: Ja, Pontus Lindberg erzählt den Klassiker mit einer sehr modernen und auch ziemlich theatralen Tanzsprache. Er setzt den Fokus auf das Zwischenmenschliche, also das Gefühlsbad, das wir durchlaufen, wenn wir in eine komplizierte Liebesgeschichte verstrickt sind. Seiner Ansicht nach stirbt man heute nicht mehr an einem gebrochenen Herzen. Aber er meint doch, dass es sehr schwerwiegende psychische Folgen haben kann. Und so begeht Giselle in seiner Version Suizid. Er glaubt auch nicht an Geister im eigentlichen Sinne, aber an eine Art mentale Geister, das heisst Menschen, die nach ihrem Tod oder wenn wir sie verlassen oder von ihnen verlassen werden, in unserem Kopf weiterleben, umhergeistern. Und genau so ergeht es Albrecht im zweiten Akt mit Giselle, aber auch mit ihrer Mutter und Hilarion. Sie erscheinen ihm in seinen Gedanken und Träumen. Hilarion ist hier nicht wie in der Originalversion Giselles Verlobter oder Geliebter, sondern ihr Onkel, der sie gemeinsam mit Giselles Mutter und ihren beiden Schwestern beschützen will. Und diese beiden Schwestern sind auch Figuren, die Pontus Lidberg hier hinzugefügt hat, die es so im Original nicht gibt. Auch hier bei Pontus Lidberg gibt es im zweiten Akt diese mythischen Gestalten, die auch sehr an den klassischen weissen Akt und die Willis erinnern. Sie sind für Lidberg aber keine Geisterbräute oder Geister, sondern Abbilder von Giselle, die Albrecht in seinen Träumen verfolgen. Und diese Traumfiguren stellen auch immer wieder aufs Neue den Tod von Giselle nach. Und so muss Albrecht dieses traumatische Erlebnis immer wieder durchleben. Der zweite Akt ist also eine Art Verarbeitung all dessen, was im ersten Akt passiert, und eine Auseinandersetzung mit Albrechts Innenleben. Ein Unterschied zur Originalgeschichte ist auch die Beziehung zwischen Albrecht und Bathilde. Hier liebt Albrecht Bathilde tatsächlich und er möchte sie auch heiraten. Es ist also keine arrangierte Ehe, und Giselle ist für ihn nur eine unterhaltsame Affäre, die nie eine ernsthafte Zukunft hat. Und erst nach ihrem Tod hat er mit starken Gewissensbissen zu kämpfen und merkt erst dann, welche Gefühle er eigentlich für sie empfunden hat. Ein Problem, warum ihre Beziehung nicht funktioniert und für Albrecht von Anfang an nicht realistisch ist, sind auch ihre unterschiedlichen familiären Hintergründe. Albrecht kommt aus einer wohlhabenden Familie und Giselle arbeitet bei Albrecht als Putzkraft. Das Thema der Liebe über die Klassengrenze spielt auch hier eine Rolle und Liedberg überträgt die Trennung zwischen Adel und Bauernvolk auf unterschiedliche Gesellschaftsschichten in der heutigen Zeit.

Nadja: Kannst du uns noch etwas zur Ästhetik des Stücks sagen, zum Bühnenbild und den Kostümen?

Sarah: Im Kostüm Bild von Rachel Quarmby Spadaccini sind bei Giselles Familie bewusst Elemente ganz verschiedener Kulturen vermischt. Und im Gegensatz dazu trägt Albrechts Familie und die Hochzeitsgesellschaft schicke festliche Kleidung, die sich nicht genau einordnen lässt. Es könnten Kleider sein, die wir heute noch tragen, oder es könnte irgendwann in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts spielen. Und durch diese offene Einordnung in Zeit, Ort und Kultur möchte Pontus Lidberg eine gewisse Allgemeingültigkeit erzielen und den Fokus auf das zeitlose Thema der komplizierten Liebesgeschichte legen. Die Bühne hat der Choreograph selbst entworfen. Das Bühnenbild ist geprägt von verschiedenen grossen Wänden mit Schwarzweiss-Fotografien, die Lidberg auch selbst aufgenommen hat. Auf den Fotografien sind Nahaufnahmen von unterschiedlichen Alltagsgegenständen zu sehen, die auf abstrakte Weise die jeweilige Einrichtung des Wohnraums von Giselle oder von Albrecht und deren Status andeuten. So ist bei Albrecht zum Beispiel mal ein prunkvoller Kronleuchter zu erkennen und bei Giselle ein Stapel Geschirr. Teilweise haben die Fotos auch eine symbolische Bedeutung. Als Albrecht im zweiten Akt Giselle bei ihrem Grab wiedersieht, taucht zum Beispiel eine riesige, leicht welke Lilie auf, die Blume der Unschuld, die ihre besten Tage aber schon hinter sich hat.

Nadja: Ja, und dann lass uns noch kurz über die Besetzung sprechen. Wen sehen wir da?

Sarah: Ja, es tanzt fast das ganze Ensemble. Es sind insgesamt 21 Tänzerinnen auf der Bühne. Und es spielt das Sinfonieorchester Basel, dirigiert von Thomas Herzog und von Benjamin Pope. Das Stück hatte Lidberg ja ursprünglich für das Ballettensemble von Le Grand Theatre de Genève choreographiert, vor circa zehn Jahren, 2012. Das heisst, es ist hier am Theater Basel eine Übernahme und wurde neu besetzt mit unseren Ensembletänzerinnen. In der ersten Besetzung sehen wir Serena Landriel als Giselle und in der zweiten Besetzung Gaia Mentoglio. Als Albrecht haben wir bei der ersten Besetzung Max Zachrisson und in der zweiten Elias Boersma. Und Giselles Mutter tanzt Tana Rosás Suñé in der ersten Besetzung und in der zweiten Rachelle Scott. Und Hilarion, der hier ja Giselles Onkel ist, wird von Daniel Rodriguez Domenech verkörpert in der ersten Besetzung und von Ruben Bañol Herrera in der zweiten.

[Musik aus dem Stück]

Nadja: Vielleicht noch zum Schluss: Was macht denn dieses Stück besonders? Warum müssen wir uns das angucken gehen?

Sarah: Es ist wunderschöne Musik, die sehr motivisch und berührend ist, gespielt von einem tollen grossen Orchester. Und der zweite Akt mit den Traumfiguren in ihren weissen Kleidern und Schleiern ist sehr poetisch und berührend. Damit hat Pontus Lidberg auch eine schöne Umdeutung des klassischen Balletts geschafft, die zwar modern ist und durch das Psychologische die Geschichte ins Heute setzt, aber doch auch Berührungspunkte hat mit dem Klassiker aus der Romantik. Das romantische Ballett ist hier immer noch sehr spürbar mit dem ganzen Spektrum vom Düsteren, Schauerhaften bis zum Bezaubernden, Fantastischen und Symbolischen.

Nadja: Giselle können Sie bis zum 20. Februar 2023 auf der Grossen Bühne sehen. Das Stück dauert eine Stunde, 45 Minuten mit einer Pause. Mehr Infos gibt's auf www.Theater-Basel.ch