Kaegis Klaenge – Hinreissend aus den Fugen Marie & Pierre

Kaegis Klaenge – Hinreissend aus den Fugen

‹Marie & Pierre› Info

Kaegis Klaenge. Ein Podcast des Theater Basel.

[Gesang und Klavier]

Wie heisst dieses Chanson? Es ist von Barbara, aber hier singt und spielt es Alma Toaspern. Sie ist Tänzerin und auch Sängerin, und wenn das Chanson zu Ende ist, wird sie vom Klavier aufstehen und tanzen in der neuen Produktion des Ballett Basel ‹Marie & Pierre›. Über diese Doppelrolle wird uns etwas erzählen, aber auch die Dirigentin des Abends Tianyi Lu kommt zu Wort sowie die Komponistin Celeste Oram, die ausgehend von diesem Chanson Musik für einen ganzen Abend geschrieben hat. Willkommen zu diesem Podcast zu ‹Marie & Pierre›! Was für ein Team! Und hat's das schon mal gegeben? Einen Tanzabend mit Musik einer Komponistin, mit einer Dirigentin im Graben, mit einer singenden Tänzerin, dazu die Choreographin Bobbo Jene Smith. Bricht etwa mit der neuen künstlerischen Leiterin des Ballett Basel, mit Adolphe Binder tatsächlich eine neue Zeit an? Ein Statement oder nicht, hab ich sie Grad selber gefragt.

Adolphe Binder: Ist ein selbstverständliches Statement? Ja, also, ich glaube, das ist Zeit, auch irgendwie eine Auftragsaomposition von einer Frau im Orchestergraben hier im Theater zu zeigen, zu dem choreographiert wird, auch eine Choreographin auf der Grossen Bühne zu zeigen, und natürlich eine Dirigentin ist auch keine Selbstverständlichkeit. Und das in diesem Dreigestirn zu haben, ist toll, dass das geklappt hat, und gleich für die Auftaktpremiere zu haben, ist super!

Gabriela Kaegi: Mit den Begriffen Handlung, Verwandlung, Enthandlung, Wandlung spielt das Saisonprogramm und kündet an: Ballett Basel anders. Was ist das Andere in diesen Produktionen, Adolphe Binder?

Adolphe Binder: Das sind Produktionen, die unterschiedliche Kunstformen verbinden. Musik spielt eine sehr, sehr grosse Rolle, Auftragskompositionen spielen eine Rolle, die menschliche Stimme, also der Chor, oder auch singende Tänzerinnen werden eine grosse Rolle spielen. Bildende Kunst, Architektur, Licht-Raum-Gestaltung also, es ist ein sehr offener Raum, den wir schaffen wollen, um möglichst unterschiedliche Ansätze von Theater- und Tanzmachen heute zu zeigen.

Gabriela Kaegi: Aber zurück zu ‹Marie & Pierre›, der ersten abendfüllenden Produktion auf der Grossen Bühne. So hat alles angefangen: Für das Royal Danish Theatre schaffen Bobbi Jene Smith, die Choreographin, und Celeste Oram, die Komponistin, ein Dance Theatre Work, ‹Pierre› heisst es, nach dem Chanson von Barbara, und wie es weiterging, erzählt die Komponistin, die zurzeit in Basel ist.
Celeste Oram: Ja, also dieses Lied Pierre, das ist nicht nur der Titel des Stücks, sondern auch das Leitmotiv für die gesamte Partitur. Für mich als Komponistin war es eine aufregende musikalische Übung, den recht einfachen Kern des Liedes zu nehmen und zu sehen, was sich daraus alles entwickeln kann und wie viel Bandbreite mir das Material bietet.

[Musik aus dem Stück]

Gabriela Kaegi: Musikalisch wird das denn noch ein vielfältiger Abend, weil Bobbi Jene Smith stets mit unterschiedlichen Musiken arbeitet und ihnen auch immer eine dramaturgische Funktion gibt. Das ist eklektisch, sagt Celeste Oram, aber die Musik erzählt immer etwas, und dann sagt sie noch:

Celeste Oram: In ‹Pierre› gibt es ganz unterschiedliche Musiken, live gespielt, auch auf der Bühne. Zum Beispiel spielt das Orchester einen künstlichen Volkstanz, weil ich zeigen will, was daraus wird, wenn ein Sinfonieorchester versucht, solche Musik zu spielen, und dann gibt es da auch noch diese langsame Passacaglia. Ich denke, dass all diese musikalischen Szenen wirklich unterschiedliche Dinge bewirken. Für mich als Komponistin ist es spannend, das zu erforschen.

Gabriela Kaegi: Einen Ausschnitt aus diesem nachgemachten, aber hinreissenden Volkstanz, der langsam aus den Fugen gerät. Das umreisst auch ein Stück Pierres Welt, die eher streng und geordnet ist, eine grosse Energie hat und vielleicht eben auch aus den Fugen geraten könnte.

[Musik aus dem Stück]

Gabriela Kaegi: Für Basel haben Bobbi Jene Smith und Celeste Oram ‹Pierre›-Teil einerseits überarbeitet und andererseits den Abend weitergedacht.

Celeste Oram: Ich glaube, sowohl Bobbi als auch ich waren eher daran interessiert, uns ‹Marie› als das Gegenteil von ‹Pierre› vorzustellen. Das hat uns eigentlich dazu veranlasst, die Welt von ‹Marie› zu erschaffen und zu überlegen, wie wir ‹Marie› zu all dem machen können, was er nicht ist.

Gabriela Kaegi: Marie, damit wird der Abend nun eröffnet, ist ein Stück geworden über das Begehren und die Erfahrung des Begehrens, der Lust und der Liebe.

Celeste Oram: Ich nehme an, dass all diese Dinge auch in ‹Pierre› vorkommen, aber in einer ganz anderen Welt angesiedelt, während bei Pierre der Schauplatz drinnen ist, mit Mauern, die die Menschen einschliessen, und alle anderen möglichen Mechanismen der Kontrolle und Begrenzungen, mit denen die Menschen in dieser Welt zurechtkommen müssen, ist die Welt von Marie gross und weit, vielleicht könnte man sogar sagen, dass sie etwas utopisch ist. Auf jeden Fall erfordert sie eine ganz andere musikalische Sprache.

Gabriela Kaegi: Der Abend ‹Marie› beginnt mit einem Cello-Solo, bei dem es wirklich nur um die aussergewöhnliche Resonanz einer tiefen, leeren Saite geht.

Celeste Oram: Es ist die tiefste Saite, aber wir haben sie runtergestimmt. Für alle, die es interessiert: Es ist noch eine Terz unter dem C. Es ist also wirklich tief und satt und hat einen unglaublichen Ton. Und natürlich gibt es auf dieser leeren Cello-Saite ein ganzes Universum an Viertel- und Obertönen und einen ungeheuren Klangfarbenreichtum.

[Celloklänge]

Die Cellistin Valentina Dubrovina, die auf der Bühne sitzt, also eine direkte Beteiligte ist, beschreibt die Situation des Anfangs und dieses Celloklanges so:

Valentina Dubrovina: Also, wir sind in einer Wüste und in der Nacht, und die Haupttänzerin, Marie, sie ist ganz alleine, zuerst auf der Bühne mit mir. Es ist ganz kalt, ganz einsam, und ich versuche, mir meinen schönen Klängen, weichen Klängen, tiefen Klängen die Atmosphäre zu bilden. Damit ist es eigentlich nicht so einsam und nicht so kalt. Dass es irgendwie ein bisschen wie eine Umarmung wird mit dem Klang. Und ja, ich bin alles, was draussen ist, also Wind, Sterne, Himmel... alles was man nicht berühren kann, das bin ich.

Gabriela Kaegi: War es bei Pierre das Chanson, das am Anfang stand, so sind es bei ‹Marie› Texte. Bobbi Jene Smith und Celeste Oram wählten alte Gedichte von zum Teil anonymen Dichterinnen aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Und wie weiter, Celeste Oram, die Klingen ja noch nicht, müssen vertont werden.

Celeste Oram: Ich fühle mich als Komponistin nicht verpflichtet, historische Musik nachzukreieren. Bei diesem Stück ging es darum, eine wirklich zeitgenössische Musik zu finden, um diesen Texten auch ein wirklich zeitgenössisches Leben zu geben, und das bedeutet, dass ich eine ganze Reihe unterschiedlichster stilistischer Einflüsse heranziehen musste. Der erste dieser alten Texte, der im Stück vorkommt, ist ein altes französisches Ballett und es ist ein lustiger Text mit luftigen Reimen. Alles ist lebhaft und energiegeladen. Das Lied schrieb sich fast von selbst, denn der Rhythmus des Textes und die Bedeutung der Worte haben die Melodie wie von selbst ergeben, und ich habe einfach auf die Seite geschaut und dachte, oh, ich höre es, es ist erstaunlich, sich mit einer so alten Quelle zu befassen und sogleich zu spüren, wie viel Leben aus ihr heraus kommt. Also das hat Spass gemacht, so jetzt.

[Musik aus dem Stück]

Der zweite Text ist altokzitanisch und alles andere als heiter. Hier grübelt eine Dichterin über die kalte Zeit nach, die gekommen ist, wenn keine Vögel mehr singen und keine Blumen mehr blühen. Celeste Oram stellt der Stimme eine Gefährtin zur Seite, das Cello.

[Celloklänge, Gesang]

Gabriela Kaegi: Und der dritte Text ist Mittelniederländisch, geschrieben von einer Begine, Hadewig von Antwerpen heisst sie, die hier ihre Liebe beschreibt, eine leidenschaftliche und erotische Liebe, auch wenn das Objekt ihrer Begierde das Göttliche ist. Wir haben also ‹Marie & Pierre›, zwei Welten, zwei unterschiedliche musikalische Landschaften. Ja, sagte die Dirigentin Tianyi Lu. Es gibt schon Beziehungen zwischen den beiden...

Tianyi Lu: ...aber mehr als Ähnliches, verbinden Gegensätze die beiden Teile. Marie ist ziemlich emotional, verbunden mit einer inneren Welt, aber auch fantastisch. Pierre hat auch tiefe Emotionen, aber sie sind in einer sehr strengen Welt eingegrenzt. Man kann es auch an der Art und Weise hören, wie die Musik strukturiert ist. Der Anfang beginnt mit diesem Schlagzeug, und dann folgt dieses Gleiten in den Streichern, und man spürt diese unterschwellige Spannung, die man nicht so recht zuordnen kann. Marie hingegen beginnt mit diesem Cello-Solo, und dann, nach einer kurzen Zeit explodiert es beinahe im Orchester, bricht aus in eine lebendige, vibrierende Farbe, in wunderschöne Linien, fast wie in einem Technicolor-Film aus längst vergangener Zeit. Ich denke, beide sind unterschiedlich, gegensätzlich, aber sie ergänzen sich auch gegenseitig.

Gabriela Kaegi: Und jetzt noch zu dieser Frau, die am Klavier sitzt und spielt und singt, von einer Frau, die am Fenster steht und auf einen Mann wartet, Pierre, der vermutlich nie kommen wird. Und wenn sie zu Ende gesungen hat, steht sie auf und tanzt. Alma Toaspern. Für sie, die Tanzen zum Beruf gemacht hat und Musik einfach immer um sich herum hatte, mit einer Musikerin als Mutter. Für sie liegt eigentlich der Reiz dieser Verbindung, dass sie beides, Musik und Tanz, von Anfang an zusammendenken kann.

Alma Toaspern: Und das ist auch, wie ich an diese Rollen hier rangehe. Ich versuche es nicht, die Unterschiede herauszuheben, sondern eher zu gucken, wie kann ich das eine für das andere nutzen? Da spielt Körper für mich eine grosse Rolle.

Gabriela Kaegi: Nun singt Alma Toaspern nicht nur den schönen Barbara-Song, sondern im ersten Teil auch die drei neu komponierten Vertonungen der alten Texte. Die altfranzösische Melodie, hat Celeste Oram gesagt, schrieb sich wie von selbst, und das hat ihr Spass gemacht. Es scheint fast, als ob sich auch schon die Dichterin im dreizehnten Jahrhundert amüsiert hätte und mit Worten herumjongliert. Da geht es um Amourette und Bouchette und Joliette und Doucette, und Journette... alles, was sich halt auf -ette reimen lässt, sodass die Komponistin an einem gewissen Punkt in die Partitur schreibt: Reime ad libidum zusammen, alles, was sich auf -ette reimen lässt.
Alma Toaspern: Ja, lustigerweise ist es für mich vor allem etwas Rhythmisches, man hat fast das Gefühl, es ist ein Instrument, diese Endung -ette. Ein Perkussionsinstrument. Und es ist auch auf so sehr perkussiven Elementen im Orchester. Und man hört mich auch hoffentlich nicht ganz konkret, weil mir sind schon Sachen rausgerutscht wie Courgette oder Baguette [lacht].

[kakophonische Musik]

Gabriela Kaegi: Das eher grüblerische Lied in Altokzitanisch, das sehr kunstvoll und komplex vertont wurde, und der Stimme noch ein Klavier und ein Cello zur Seite stellt... bezeichnet Alma Toaspern schon als introvertiert.

Alma Toaspern: Für mich hat es etwas innerlich Scheinendes. Also ich hab das Gefühl, zwischen uns drei Musikern besteht so eine Art Energie, die so langsam wächst, und dann kommt auch das Orchester zu einem Zeitpunkt rein, und dann wird es irgendwie... bricht es so auf.

Gabriela Kaegi: Das dritte Lied, das Mittelniederländische, hat Celeste Oram ganz vom Text aus vertont und keine Notenwerte hingeschrieben, nur die Tonhöhen, allein der Sprachrhythmus zählt. Alma Toaspern hat sogar den Rat bekommen, dass es zweitrangig sei, hier der Dirigentin zu folgen, besser sei es, die eigene Gesangslinie und den eigenen Sprachrhythmus durchzuziehen. Und für sich selbst hat Alma Toaspern noch etwas anderes entdeckt, dank diesem Lied.

Alma Toaspern: In dem Song vor allem ist es für mich... öffnet sich so eine Vertikalität in der Stimme, und das kenne ich vom Tanzen in der Form nicht, weil einfach... da spielt ja Schwerkraft eine Rolle, also gravity, die einen eher Richtung Boden... oder hat man eher mit dem Boden zu tun, sage ich mal, im Tanz. Und bei dem Song jetzt öffnet sich so eine Endlosigkeit nach oben, die ich total spannend finde.

Gabriela Kaegi: Was denn Barbara-Song betrifft, fand Celeste Oram, dass sie ihn in Es-Moll notieren möchte. Sehr düstere Tonart.Schwärzeste Schwermut. Wenn Gespenster sprechen könnten, sprächen sie in Es- Moll, sagte man einst über den Charakter. Zudem hat es jede Menge B's, sechs an der Zahl, und die liegen auf dem Klavier für die Hände nicht so gut. Und Alma Toaspern, wie schafft sie es?

Alma Toaspern: Tonleitern üben. Ich hab's so geliebt, mein Klavierlehrer hätte mich nicht wiedererkannt. Ich habe monatelang Tonleitern geübt. Es hat total Spass gemacht.

[Chanson Pierre, gesungen von Alma Toaspern]

‹Marie & Pierre›, der Tanzabend des Ballett Basel mit Musik von Celeste Oram, in der Choreographie von Bobbi Jene Smith, mit dem Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Tianyi Lu hat Premiere am 18 November 2023 auf der Grossen Bühne im Theater Basel.