Stückeinführung Matthäus-Passion

Stückeinführung

‹Matthäus-Passion› Info

Hallo und herzlich Willkommen beim Einführungspodcast vom Theater Basel. In dieser Folge möchten wir Ihnen die Matthäuspassion vorstellen. Ein Stück auf der großen Bühne, inszeniert von Benedikt von Peter. Alessandro de Marchi hat die musikalische Leitung. Und zu sehen sind der Chor und Extrachor, das Theater Basel, Chöre und Singvereine aus Basel und der Umgebung. Es spielt das Sinfonieorchester Basel und zu sehen sind auch mehr als 50 Kinder auf der Bühne von der Mädchenkantorei und der Knabenkantorei, Basel. Ich heisse Nadja Camesi und was es mit all dem auf sich hat, bespreche ich jetzt mit Niels Nuijten Operndramaturg hier am Theater Basel. Hallo Niels.

Niels:
Hi Nadja. 

Nadja:
Die Matthäus-Passion ist ein Werk von Johann Sebastian Bach, also aus der Barockzeit. Das ist ein bekanntes und auch beliebtes Werk, das gerade um die Osterzeit herum häufig aufgeführt wird. Einfach mal kurz zum Einsteigen. Worum geht es da?

Niels:
Es geht um die Leidens- und Sterbensgeschichte von Jesus Christus, also die letzten Tage eigentlich von Jesus Christus. Es ist ein Oratorium, es wurde von Bach geschrieben, wie du gesagt hast, in 1727 – also es wurde uraufgeführt in 1727. Er hat es eigentlich als eine Art Collage geschrieben aus verschiedenen Textquellen. Das Evangelium selber ist sehr präsent, es wird gesungen – eigentlich erzählt – vom Evangelisten, in der Matthäuspassion auch und das ist eigentlich genau der Text aus dem Evangelium von Matthäus. Und diese Erzählung wird immer wieder unterbrochen von grossen Chorälen und Arien. Und die Choräle waren teilweise schon sehr bekannt, auch in Bachs Zeit. Diese Texte hat er eigentlich genommen und reingemacht in diese Matthäuspassion. Er hat auch mehrere Passionen geschrieben, wie die Johannes-Passion zum Beispiel, da gibt es auch Ähnlichkeiten. Und wenn man diese andere Passion hört, hört man auch, dass es da Überschneidungen teilweise gibt. Aber die Choräle waren sehr bekannt, damals schon wurde auch mitgesungen und die Arien sind dann wieder in seiner Zeit geschrieben. Und so hat er dieses Oratorium für uns alle gemacht, geschaffen.

Nadja:
Erzählt wird da das Leiden und Sterben von Jesus. Und du hast gerade schon den sogenannten Evangelisten erwähnt. Das ist eine Art Erzählerfigur, der uns eigentlich darüber informiert, was gerade passiert in der Geschichte. Bei uns singt das Robin Tritschler. Und die Choräle sind ein bisschen ein Kontrast dazu. Kannst du etwas zu dieser, zu diesem Zusammenspiel erzählen?


Niels:
Der Evangelist ist die vielleicht wichtigste Person im Stück, in dem Sinne, dass er am meisten präsent ist. Er leitet uns, führt uns durch dieses ganze Stück dahin. Das hat eigentlich damit zu tun – also dass es überhaupt einen Erzähler gibt – dass dieses Werk, so ein Oratorium, in der Fastenzeit entstanden ist, also uraufgeführt wurde. Und in der Fastenzeit waren die Theater geschlossen und Theater war eigentlich verboten. Aber wenn man eine Geschichte nacherzählte, dass das war dann erlaubt, daher gibt es diese Struktur. Und diese durchlaufende Erzählung wird unterbrochen von Chorälen, die teilweise die Geschichte reflektieren oder einen Kommentar auf die Geschichte geben. Auch die Arien fokussieren sich immer wieder auf eine Emotion oder einen Zustand. Aber vielleicht hören wir mal rein, wie das so klingt mit dem Evangelisten, wie er in diesem Sprechgesang uns durch den Abend führt.

[Ausschnitt aus dem Stück]

Nadja:
Du hast uns gerade schon erklärt, so ein Oratorium war eigentlich nicht als Inszenierung gedacht, so wie wir das heute machen. Wir spielen das aber in einem Theater auf der Grossen Bühne und es wird durchaus gespielt. Wie habt ihr das erarbeitet?

Niels:
Wir leben ja nicht mehr im 18. Jahrhundert. Also es ist jetzt erlaubt, dieses Stück auch im Theater zu spielen. Und es ist ja nicht so weit hergeholt, das in ein Theater zu spielen, es ist ein sehr theatrales Stück, es wird eine Geschichte erzählt. Auf dieser Ebene macht es also schon Sinn, das auf eine Bühne zu bringen. Eine andere interessante Vorlage ist aber, dass auch Bach schon sehr räumlich gedacht hat bei diesem Stück. Das Besondere an der Matthäuspassion ist, dass er das für zwei Chöre geschrieben hat. Und zu diesen zwei Chöre gehören auch zwei Orchester. Es wurde uraufgeführt in der Thomaskirche in Leipzig, wo Bach Kantor war, und er hat damals diese zwei Chöre, einen hinten auf die Kantorei gestellt und einen vorne beim Altar. Und diese Doppelbödigkeit macht den ganzen theatralen Ritual-Raum eigentlich auf. Also die Gläubigen waren da in mittendrin in dieser Geschichte. Es gibt da so Frage-Antwort-Strukturen, oder es gibt auch Momente, wo alle mitsingen. Und das ist ja eine Idee von Bach gewesen. Also nicht diese Doppelbödigkeit, die gab es schon früher auch, auch im sechsten Jahrhundert schon in Venedig und so, das ist nicht seine Erfindung. Aber diese Chöre, dieses Werk so aufzubauen, das hat er gemacht. Und wir haben das eigentlich als Grundgedanken genommen für unser Stück und das eigentlich erweitert. Wenn die Matthäuspassion jetzt im Konzert gespielt wird, ist es oft so, dass links und rechts die Chöre stehen. Und wir haben das zusammengepackt eigentlich und als ein kreuzförmiger installativer Raum gedacht. Das heisst, überall sind Chöre, Publikum, Orchestermusiker, und die kommen eigentlich als eine grosse Gemeinschaft zusammen und damit vergrössern wir, glaube ich, diesen Grundgedanken, den es bei Bach schon gab, und machen das Theater nochmal ein bisschen beeindruckender.

Nadja:
Das klingt auch schon fast immersiv. Also man taucht so richtig selber ein und ist umgeben von Musik und Mitwirkenden. Und auch das Publikum ist bei uns eingeladen mitzusingen, wenn man möchte.

Niels:
Stimmt. Das Publikum ist dabei bei ein paar Chorälen, also es gibt ja sehr bekannte Choräle, die viele Menschen kennen, zum Beispiel O Haupt voll Blut und Wunden oder Ich will hier bei dir stehen, vielleicht zur Erinnerung. Können wir da noch mal kurz reinhören?

Nadja:
Gerne.

[Ausschnitt aus dem Stück]

Niels:
Das sind ja Melodien, die viele von uns kennen oder irgendwo im Hinterkopf haben. Und wie gesagt ist das Publikum auch eingeladen mitzusingen. Daneben haben wir auch bei jeder Vorstellung andere Singvereine und Laienchöre aus der Umgebung, aus Baselland und Basel Stadt eingeladen, um mitzusingen und so wird das Ganze noch mehr immersiv, wie du das auch beschrieben hast. Und manchmal sind wir wirklich in dieser Musik drin, um dann nachher natürlich auch wieder mehr fokussiert zu werden, weil es gibt ja auch noch diese Arien, die teilweise auch sehr bekannt sind. Viele von uns kennen auch Erbarme dich, das wird gesungen, direkt nach dem Moment, wo Petrus Jesus verleugnet hat, also dreimal verleugnet hat. Und diese Arie beschreibt dann eigentlich diesen Gefühlszustand von Petrus in diesem Fall. Und da können wir auch vielleicht noch mal reinhören.

[Ausschnitt aus dem Stück]

Nadja:  
Also die Geschichte, die hier erzählt wird, ist das Sterben von Jesus. Was jetzt aber vielleicht nicht unbedingt naheliegend ist, ist, dass das bei uns durch eine Gruppe von Kindern gespielt wird. Das ist ja auch eine sehr brutale, traurige Geschichte. Da würde man denken, dass das schon auch ein ziemlicher Kontrast ist. Warum habt ihr das so gemacht?
Niels:
Ja, die Kinder sind sehr präsent. Den ganzen Abend, also eigentlich diese zweieinhalb Stunden lang, spielen sie oder spielen nach. Sie stellen immer Tableaux vivants dar. Also der Evangelist erzählt immer die Geschichte, und er ist am Abend aber auch quasi ein Lehrer für diese Kinder. Er führt sie, leitet sie eigentlich an – jetzt kommt das letzte Abendmahl, und dann sehen wir die Kinder, wie sie teilweise mit Requisiten und mit Tüchern und mit Speeren oder mit der Brotschüssel immer wieder reinkommen und diese Bilder darstellen. Das fängt eigentlich sehr ordentlich alles an und sieht auch süss aus, die Kinder machen das sehr gut. Jetzt sieht es irgendwie sehr einfach aus, aber wir haben das über sechs Monate geprobt mit diesen Kindern, immer am Wochenende und die haben ja auch Schule, natürlich. Also wir sind schon sehr lange dran, all diese Bilder einzuüben, also nachzustellen mit diesen Kindern. Aber genau wie du sagst wird vor allem im zweiten Teil diese Geschichte ziemlich heftig. Es gibt einen Selbstmord von Judas, es gibt Folterszenen, es gibt die Kreuzigung von Jesus und ja, da entsteht mehr und mehr so ein Gedanke, glaube ich, wenn, man das anschaut oder wenn man das sieht: Wow, warum spielen die Kinder das? Das ist ja ziemlich krass. Und da kommen wir eigentlich zum Grundgedanken von dieser Inszenierung mit Kindern. Weil Benedikt von Peter, der Regisseur, liest dieses Stück eigentlich als eine Art Wertemaschine. Diese Geschichte und auch Bachs Passion selber sind eigentlich Urgeschichten in unserer westlich-christlichen Kultur und von Generation zu Generation wird diese Geschichte immer wieder erzählt und hat damit auch irgendwie eine Funktion. Sie sagt uns teilweise: So muss man leben, so kann man das, kann man darin lesen. Werte wie Nächstenliebe, Demut, Treue, Barmherzigkeit vermitteln sich eigentlich durch diese Geschichte, also an das Publikum. Und so lesen wir dieses Stück eigentlich. Und bei diesem Abend wird diesen Kindern eigentlich gelehrt. So, so, so geht das, Kinder, also so ist das gedacht. Wir lehren die Kinder die Geschichte und damit auch die Werte, die sie vermittelt.

Nadja:
Aber mit sehr brutalen Mitteln. Also das ist ja, das kann man sich ja schon mal vergegenwärtigen, dass… zumindest ich hatte ab dem Alter von sieben Religionsunterricht und da werden einem diese Geschichten ja erzählt.

Niels:
Genau, es ist ja eigentlich, es ist ja krass, wenn man das so bespricht, aber das ist ja immer so passiert. Ich habe auch als Kind diese Geschichte schon mitbekommen und gehört, natürlich. Und man kann es eigentlich lesen, vielleicht als eine Art Anti-Krippenspiel und die Kinder stellen so diese Bilder dar und kommen dann immer wieder rein und raus. Und wir gehen nicht so in dem Sinne, nicht so direkt auf diese Heftigkeit dieser Geschichte ein, also nicht mit Blut und so weiter. Es wird, glaube ich auch klar, dass das echt ein Lehrmoment ist, eine Lehrstunde für die Kinder. So, aber dann kommt natürlich diese Frage kommt schon hoch. Warum machen die Kinder das denn? Und ist das eigentlich okay, dass sie das machen? Und geht das eigentlich? Und diese Frage lässt sich eigentlich stellen durch ein Mädchen, das aus dieser Gruppe herauskommt und erst mal spürt so: Wow, was ist das eigentlich? Was passiert hier denn? Und mehr und mehr stellt sie die Frage oder stört sie eigentlich die Gruppe auch teilweise. Also warum macht ihr einfach, was sie Erwachsenen erzählen? Und wir müssen selber auch noch mal nachdenken: Was, erzählen wir hier eigentlich? Und welche Werte werden hier eigentlich uns gelehrt? Und ja, damit lässt sich die Frage stellen, glaube ich, am Abend: die Werte, die wir unsere Kinder lehren, leben wir die selber eigentlich? Und gerade jetzt in dieser Zeit, wo Kinder sehr politisch auf der Bühne auch auftreten, zum Beispiel mit Fridays for Future oder so, Greta Thunberg ist natürlich da ein bekanntes Beispiel. Da ist das ja eine wichtige Frage, weil was bedeuten die Werte in diesem Stück noch für eine Generation mit so einer ungewisser Zukunft, obwohl es teilweise auch Werte sind, die vielleicht jetzt so ein bisschen unpopulär sind, aber vielleicht wieder wichtig sind für diese Generation. Also durch diese Trennung von Erwachsenen, also wir als Publikum und diese Chöre und Orchester, die dann teilweise auch natürlich mitsingen, beteiligt sind an diesem Abend, und auf der anderen Seite gibt es diese Gruppe von Kindern. In diesem Kontrast zwischen diesen zwei Gruppen entsteht, glaube ich, die Erfahrung oder die Bedeutung von diese Abend.

Nadja:
Ja. Wir haben ja schon darüber gesprochen, wie viele Leute da involviert sind. Ich meine, schon vier Chöre und ein Orchester, das ist ein gewaltiger Cast. Das ist ja auch eine grosse Herausforderung für den musikalischen Leiter, der das eigentlich alles so zusammenhalten muss.

Niels:
Stimmt, das ist eine ziemlich grosse Herausforderung. Alessandro De Machi ist da am Abend wirklich Spielleiter. Er muss das alles zusammenhalten. Das sind ja mehr als 200 Leute, die auch unterschiedlich geprobt haben, weil die Kinder spielen nicht nur, die singen ja auch. Das war auch sehr hilfreich, dass das sehr musikalische Kinder sind und deswegen auch diese Musik sehr gut kennen. Und sie singen teilweise mit. Dann gibt es diese Singvereine und Laienchöre, wo jedes Mal ein anderer Chor ist. Dann gibt es noch die Orchester, unseren Chor, unseren Extrachor. Und all diese Leute werden am Abend von Alessandro zusammengehalten. Er steht mitten in diesem ganzen Geschehen. Er ist auch sehr gut sichtbar und zu sehen. Er dirigiert ja teilweise dann auch das Publikum, natürlich, wenn es eingeladen ist zu singen. Und ja, das war ein Riesenprozess, natürlich, um das so irgendwie hinzukriegen, aber das macht es auch sehr lebendig und jeden Abend wieder spannend, weil es gibt jeden Abend wieder Menschen, die neu dazukommen und er muss das alles dann einfach auf den Punkt bringen, zusammenhalten und machen. Also bisher hat das noch sehr gut geklappt, aber es bleibt ja immer spannend.

Nadja:
Ja, vielen Dank für diese Einführung, Niels.

Niels:
Danke, Nadja.

Nadja:
Die Matthäus-Passion können sie noch bis zum Ende der Spielzeit 21/22 auf der Grossen Bühne sehen. Das Stück dauert zirka drei Stunden fünf Minuten mit einer Pause. Mehr Infos gibt es auf unserer Internetseite www.theater-basel.ch