Stückeinführung Stückeinführung

Stückeinführung

‹Stückeinführung› Info

Hallo, willkommen zum Podcast vom Theater Basel. Das hier ist eine Einführung zum Mitnehmen für alle, die sich über unsere Stücke auf der grossen Bühne und im Schauspielhaus informieren möchten. In dieser Folge sprechen wir über die Schauspieloper mit dem Titel ‹Die Mühle von Saint Pain›. Geschrieben wurde das Stück von Lucien Haug und Anne Haug, die auch Mitglied der Basler Compagnie ist. Regie führt Antú Romero Nunes und Musikkompositionen hat Anna Bauer geschrieben. Aber es gibt auch jede Menge weitere Musik, denn auch die Sinfonietta Basel spielt unter der Leitung von Thomas Wise. Mein Name ist Nadja Camesi und mir gegenüber sitzt Michael Gmaj, Schauspieldramaturg am Theater Basel. 

Hallo Michael!
Hallo Nadja!

[Musik]

Nadja:
Michael, schon im Titel zeigen sich ja eigentlich verschiedene mögliche Lesarten: Die Mühle von Saint Pain, Englisch, dann ist es ein heiliger Schmerz oder die Mühle von Saint Pain, Französisch, dann ist da das heilige Brot. Ist das Absicht?

Michael:
Es ist ein Spiel damit, ja. In einer Mühle gibt es ja auch viel Mehl. Also wäre Saint Pain (FR heiliges Brot) eigentlich naheliegend. Es gibt sogar eine kleine Szene, in der ein Keks schon fast wie eine Hostie gebrochen und verteilt wird. Aber eigentlich ist gemeint: die Mühle des heiligen Schmerzes. So könnte man es tatsächlich übersetzen. Es ist eine Schauspieloper. Das Schauspielensemble erzählt uns eine Geschichte über eine zerrüttete Familie, also über Schmerz. Und das ist eine Erzählung über das Erinnern an die eigene Kindheit und wie man sich daran erinnert und wie auch jeder eine eigene Version des Erinnerns hat.

Nadja:
Und woher kommt denn jetzt der Ort, an dem das spielt, die Mühle?

Michael:
Die Grundidee war es, Motive der sorbischen Sage um Krabat zu nehmen und damit eine ganz neue Geschichte zu erzählen.

Nadja:
Also die Sage, von der du sprichst, das ist eine Reihe von Erzählungen um einen Kroaten, der im 17. Jahrhundert vielen Menschen geholfen haben soll. Deswegen Krabat, das bedeutet ‹der Kroate›, und Sorbisch wiederum, das ist eine ostslawische Sprache, die vor allem in Ostdeutschland und in der Lausitz gesprochen wird. Hier kennt man aber den Namen Krabat vor allem in Form eines Jugendromans von Otfried Preussler.

Michael:
Ja, das ist eine Adaption der Sage. Daneben gibt es auch verschiedenste Versionen, die mündlich überliefert worden sind. Und Juri Rajan, ein sorbische Autor, hat noch vor Preußler dazu auch mehrere Bücher geschrieben, in der die noch nochmals anders bearbeitet.

Nadja:
Das heißt aber, die Autorin Ane Haug und ihr Bruder Lucia Haug haben sich an diesem älteren Stoff orientiert und nicht an Preußler. Worum geht es denn in dieser Version der Saga?

Michael:
In der Grunderzählung sind sich alle Versionen sehr ähnlich. Die Sage handelt von einer schwarzen Mühle, in der ein Müller Waisenkinder dazu zwingt, für ihn zu arbeiten. In der Nacht werden sie dafür in schwarzer Magie unterrichtet. Krabat ist selbst ein Waisenkind, stösst auf diese Mühle und wird zu einem Schüler, findet aber heraus, dass immer wieder Kinder verschwinden, wenn sie zu viel Wissen angesammelt haben, zu viel Magie. Aber auch er liest nachts in diesem Zauberbuch, was geheim ist, was versteckt wird, vom Müllermeister und das wird gefährlich für ihn. Er flieht aus der Mühle zu der Mutter eines Freundes und erfindet zusammen mit ihr eine List, um sich von der Macht des Müllers zu befreien. Wieder zurückgekehrt verwandelt der Müller alle Kinder zur Strafe in Raben. Freiheit erlangt nur das Kind, das von einer Mutter als ihr Kind erkannt wird. Die falsche Mutter kommt, hat mit Krabat ein Zeichen verabredet und löst dadurch diesen Zauber von ihm. Im Unterschied zum Jugendbuch von Preussler geht es also nicht um eine romantische Liebe, sondern es geht vielmehr um das Thema der Mutterliebe, vielleicht der wichtigsten Liebe überhaupt, und der unschuldigsten aller Lieben.

Nadja:
Die Geschichte, die wir jetzt auf der Grossen Bühne erzählt bekommen, ist aber nochmals abgewandelt davon. Ein paar Motive und Themen wurden aufgenommen von der Version, die du gerade erzählt hast. Aber da gibt es auch ganz viel andere Motive drin.

Michael:
Für Lucien und Anne Haug war das einer der Ausgangspunkte, lose angelehnt an diese Sage, eine tragikomische Geschichte über eine zerrissene Familie zu erzählen. Dabei geht es um unverschuldete Schuld und die Frage, welche Schuld man über Generationen hinweg in einer Familie immer weitergibt. Bei Anne und Lucien ist es Krabat, die im Zentrum der Geschichte steht – eine sie in diesem Fall – die über den Verlust ihrer Mutter – die Mutter ist gestorben und der Vater geflüchtet vor der Verantwortung – sie selbst noch ein Kind, die Rolle der Eltern für ihre Geschwister übernehmen muss. Und da können wir vielleicht reinhören, wo uns Krabat erzählt, wie sie überhaupt in diese schlimme Situation gekommen ist.

Nadja:
Sehr gern.

[Ausschnitt aus dem Stück]

Michael:
Die Sage spielt mit christlichen Motiven. Der Müller ist mit dem Teufel verbandelt und schwarzer Magie. Die Mutter erlöst mittels ihrer Liebe und steht für die Freiheit. Doch Krabat muss in diesem Abend beides verkörpern, bis es sie fast zerreisst. Sie muss Mutter und Vater für diese Kinder sein. Für ihre Geschwister. Denn die beiden gibt es nicht mehr. Und um die Familie zusammenzuhalten, etabliert sie als Kind zuerst aus einem Spiel heraus eine Art Herrschaftssystem, in dem sie über eine imaginierte vorgestellte Vaterfigur Sachen verbietet und über eine Mutter, die sie sich herbeiwünscht, die ihr immer wieder erscheint, Aufgaben an die Geschwister stellt.

Nadja:
Könnte man sagen dass eine Coming of Age Geschichte erzählt wird?

Michael:
Ja, vielleicht ist es eine Geschichte über das Erwachsenwerden. Die Erzählung spielt mit verschiedenen Formen von Schmerz und dem Motiv der Erlösung von seinen Eltern. Ob es nun die echten, gewählte oder eben Stellvertreter-Eltern sind. Und es wird auch gefragt, ob Familie ein Blutrecht und damit auch Blutzwang ist oder ob die Entscheidung für oder gegen seine Familie nicht genauso freie Wahl sein sollte wie viele Sachen mittlerweile.

Nadja:
Da sind wir jetzt schon ziemlich tief in die Materie eingetaucht. Vielleicht noch einmal, um ein bisschen rauszukommen. Kannst du uns die Handlung ganz kurz noch mal wiedergeben? Worum geht es an dem Abend?

Michael:
Der Abend beginnt als pointierte Komödie, die vor der Mühle, also vor dem Gebäude im Zuschauerraum des grossen Hauses spielt, also wortwörtlich zwischen den Zuschauerreihen. Krabats Geschwister kommen zu ihrem Begräbnis zusammen. Das ist natürlich alles etwas schräg und komisch, weil sie sich schon länger nicht mehr gesehen haben. Zwanzig Jahre haben sie nicht gesehen. Judith, Ruben und Simon, das sind die Geschwister. Alle drei haben verschiedene Leben geführt. Judith ist alleinerziehende Mutter, Ruben tourt mit seiner Band durch Lateinamerika, Simon hat drei Kinder und eine Frau, die vorher seine Therapeutin war. Was aber klar wird: Die drei hatten nicht die glücklichste Kindheit und nicht die schönste Familie. Doch diese Vergangenheit wird verdrängt. Stattdessen hat jeder eine eigene Vorstellung der Begräbnisfeier und so brechen schnell wieder Konflikte auf. Und dann gibt es noch die Jüngste, die Tochter von Judith, ‹Lücke›, eigentlich eine Namenlose. Und erst diese dritte Generation fängt an, die richtigen Fragen zu stellen und bringt das Lügengebäude der Geschichten dieser Familie und auch, in denen sie ihr Leben eingerichtet haben, peu à peu zum Einsturz. Man könnte auch sagen: die Familie eine Mühle. Das ist das, was erzählt wird.

Nadja:
Und nach diesem ersten Akt, da ist man ja noch draussen und bekommt die Gegenwart erzählt. Dann verändert sich das aber auch alles als Setting und man befindet sich wirklich in der Mühle drinnen, also in diesem Haus, in dem die Protagonistinnen aufgewachsen sind. Wie kommt es dazu?

Nadja:
Plötzlich erscheint die tote Krabat – wir haben es ja mit einem Märchen zu tun –, ein Mädchen, das nicht erwachsen geworden ist. Und Krabat entführt die Geschwister in die Mühle ihrer Kindheit. Da öffnet sich auch die Bühne. Sie fährt hoch, wir sehen plötzlich das Haus, schon fast eine Art Puppenhaus, die Einrichtung ist zu gross, weil es ja Kinder sind. Und auch wir als Zuschauer werden plötzlich von dieser Komödie in ein ganz anderes Genre reingezogen. Es gibt wenig Texte in diesem zweiten Akt, teilweise auch in Jamben. Und dazu gibt es Musik. Und da können wir in ein Musikstück von Schostakowitsch reinhören, mit dem genau dieser zweite Akt beginnt.

[Musik]

Nadja:
Nun hörten wir eben schon ein Musikbeispiel und auch das Genre des Stückes heisst ja Schauspieloper. Das heisst, die Musik spielt eine ganz wesentliche Rolle hier…

Michael:
Die Musik muss beinah schon als gleichwertige Autorin des Abends gesehen werden. Grosse Teile davon wurden auch von Anna Bauer geschrieben, deren Komposition wir bereits in ‹Metamorphosen› hören konnten. Anna Bauer hat Erfahrung mit Pop, Neuer Musik, aber auch Filmmusik und hat diese Kompositionen parallel während der Entstehung des Textes geschrieben. Und noch während der Proben wurde an diesen Songtexten und auch an der Musik gefeilt. Es wurde daran gearbeitet, sodass auch die szenische Arbeit, die Inszenierung von Antú Romero Nunes, darauf Einfluss nehmen konnte, wohin sie sich entwickelt. Die Musik und die Songtexte erzählen also an diesem Abend genauso wie die Texte der Autor:innen.

Nadja:
Und neben den Schauspielerinnen und Schauspielern steht auch die Sopranistin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir – ich hoffe, ich habe den Namen richtig ausgesprochen – auf der Bühne, die seit dieser Spielzeit festes Ensemblemitglied in der Oper ist. Warum haben wir noch diese Sängerin dabei?

Michael:
Die Sängerin spielt auch für die Erzählung eine grosse Rolle, denn die Mutter, die gestorben ist, die war Opernsängerin. Somit bietet es sich an, natürlich eine Opernsängerin mit dieser Rolle zu besetzen. Anna Bauer hat sie auch mitbedacht in der Komposition der Texte. Also da singen Schauspielerinnen mit einer Opernsängerin – das ist das eine. Es kommen aber auch noch andere Werke oder Fundstücke hinzu, wie sie der musikalische Leiter Thomas Wise nennt. Historische Orchesterwerke, die bedürfen, dass eine Opernsängerin mit dabei ist, die auch eine ganz andere Instrumentierung haben, wie die jetzt von Anna Bauer. Und diese Werke werden gezielt für bestimmte Vorgänge oder Momente eingesetzt. Ich habe schon Schostakowitsch genannt. Im zweiten Akt wird die Kammersinfonie in c-moll gebracht. Das ist sozusagen der Soundtrack für die Zeitreise der Geschwister in ihre Kindheit. Dann wird aber auch, wenn die Mutter vorgestellt wird als Opernsängerin, hört man eine Arie aus Mozarts Oper ‹Mitridate, re di Ponto›. Das ist sozusagen die Einführung für Álfheiður. Und ganz am Ende des Stücks singt sie dann auch noch zusammen mit dem Chor Gregorio Allegris Miserere von 1630, wo sie teilweise alleine singt und teilweise mit dem Chor des Theater Basel. Und das Besondere an diesem Stück ist, das Krabat ihr dialogisch mit Text antwortet. Und dazwischen hören wir noch ein sehr sehr tolles Werk. Mahlers berühmtes Adagietto aus der Symphonie Nr. 5

Nadja:
Das ist ja ein ziemlich wilder Mix an Musik, also Anna Bauers Popstücke, zum Teil auch so ein bisschen wie Volksgesänge, Volkslieder, die sie komponiert hat und dann aber auch diese klassischen Werke. Warum hat sich denn das künstlerische Team für diese Mischung entschieden?

Michael:
Also der Abend ist eine Stückentwicklung durch und durch. So ist auch von der Konzeption her entstanden. Das heisst, während Anne und Lucien an den Texten geschrieben haben, hat Anna komponiert. Dazu hat dann Thomas Wise mit dem Team die Orchesterwerke gesucht, recherchiert, ausgewählt. Die Idee war, bekannte Werke zu nehmen, die klare Pfeiler sind, also Pfeiler auch für die Erzählung. Und Anna Bauer als Komponistin zieht zwischen diesen Pfeilern einen roten Faden, der sich an dieser Geschichte orientiert und das alles zusammenführt, eigentlich die Erzählung, die musikalische Erzählung dazwischen baut. Es sind Schauspielmusiken, ein grosses Orchesterwerk. Das steht für sich, das muss fast allein im Raum stehen. Bei Schostakowitsch kann man die Musik zu einem Stummfilm verwenden, darauf inszenieren. Aber Annas Musiken, diese Schauspielmusiken, die geben etwas Neues hinzu. Das ist ein emotionales Moment, was sozusagen auch auf das Spiel der Schauspieler:innen reagiert. Es gibt vielleicht Szenen, in denen es nicht wirklich Text gibt, aber dafür kommt Annas Musik vor. Und das ist noch mal ein anderer Rhythmus, eine andere Bewegung für das Spiel der Schauspieler:innen. Und zudem gibt es auch einige tolle neue Songs, die von Anna geschrieben wurden, die auch wiederum etwas erzählen. Und da können wir in ein Jetzt reinhören in ‹Schwester›. Ein Song, in dem drei Generationen von Frauen zusammenkommen aus dieser Familie, aber nur zwei singen.

[Musik]

Nadja:
Da hat man jetzt im Hintergrund schon ein Klappern gehört, das kommt von einer Maschine, die am Ende des Stücks auf der Bühne steht, eher in der Ferne. Man sieht es nicht ganz gut, aber man sieht, dass sich da was bewegt und dass Flaschen zerschlagen werden. Was hat es damit auf sich?

Michael:
Das ist eine Maschine von Jean Tinguely, ein Original, das wir als Leihgabe vom Museum Tinguely erhalten haben, extra für diese Produktion. Das Werk hat den Namen ‹Rotozaza II›. Neben ihr gibt es auch noch zwei andere Maschinen. Alle drei führen sinnlose Tätigkeit aus und diese hier kann Flaschen zertrümmern. Das heisst, man hängt an einem Ende Flaschen rein und am anderen Ende gibt es einen Hammer, der sie zerschlägt. Und der Gedanke war, dass diese Maschine symbolisch für diese Familienmühle steht, für diesen Schmerz, für das Destruktive, für die Zerstörung, die innerhalb dieser Familie stattgefunden hat und womöglich auch mit ihrem Klang, den man jetzt gehört hat, für diesen ewigen Kreislauf einer Familie, aus dem man sich nicht befreien kann.

Nadja:
Vielen Dank für diese Einführung, Michael.

Michael:
Vielen Dank an dich, Nadja.

Nadja:
Die Mühle von Saint Pain können Sie in dieser Spielzeit bis Ende März auf der Grossen Bühne sehen. Das Stück dauert zwei Stunden 45 Minuten mit Pause. Mehr Infos gibt es auf unserer Internetseite www.theater-basel.ch
 

Abonnieren: SpotifyApple Podcasts