Eine Wohngemeinschaft von Tauben und Menschen

Zwölf Tauben, Seraina Dür und Jonas Gillmann wohnen gemeinsam in der Alten Billettkasse. Gemeinsam üben sie Erzählungen für ein zukünftiges, weniger menschenbezogenes Miteinander. Durch eine Flugklappe fliegen die Tauben raus in die Stadt und bringen manchmal ihre Stadtfreundschaften mit. Regelmässig kommt auch die Zeichnerin Nicole Schuck zu Besuch. Vor Ort fertigt sie Skizzen, die – zu Zeichnungen ausgeformt und auf Stoff gedruckt – als Flaggen im Stadtraum flattern.

Tauben und Menschen in einem Raum mit Matten und Möbeln

Kunsträume als Übungsfeld

Seraina Dür und Jonas Gillmann schaffen performative Settings, die von nicht-menschlichen und menschlichen Akteur:innen gestaltet und bespielt werden. Als arten-übergreifenden Theatercompagnie verstehen sie uns als verstrickt mit der beschädigten Umwelt, in der wir leben. Was sie erzählen setzt sich über die Grenze Natur-Kultur hinweg. In Zusammenarbeit mit der Künstlerin Anne Linke, die den Stadtraum als urbanes Ökosystem begreift, verwandelt sich die Alte Billettkasse in einen Tauben-Menschen-Schlag.

Geschätzte Tiere

Wenn Nicole Schuck sich mit der ganzen Grauwert-Palette ihrer Bleistifte einem Wildtier nähert, samt seinem Lebensraum, seinen Beziehungen, Spuren und Gewohnheiten, geht sie eine wachsende Verbindung mit ihm ein. Über Wochen, oft Monate hinweg gewinnt sie dabei Erkenntnisse, die zu einer grossen Wertschätzung des Wildtiers als individuellem Wesen und Subjekt in der mit ihm geteilten (Bio-)Sphäre führt. Thematischer Hintergrund von Schucks künstlerischer Position ist die globale ökonomische Inwertsetzung von Wildtieren und Natur, die ethische Fragen aufruft und das In-Beziehung-Sein des Menschen mit der Natur tiefgreifend verändert. Ihre Arbeiten sensibilisieren für die Komplexität von Lebenszusammenhängen und verstehen sich somit auch als Beitrag zur dringend notwendigen breiten gesellschaftlichen Naturschutzdebatte.

In der Alten Billettkasse und im öffentlichen Raum spürt Nicole Schuck den Stadttauben nach: Ohne von systematischen Annahmen auszugehen, lässt sie sich in unserem gemeinsamen Tauben-Menschen-Schlag zeichnend auf jeden einzelnen Vogel ein. Die Zeichnungen, die so im Verlauf von ‹Rough Love› zu einer Installation anwachsen, sind kein Abbild des Gesehenen, sondern führen die Wahrnehmung ganz nah an diese verwilderten Haustiere und ihre Kontexte heran.

Eine Fahne mit Schwarzen Zeichnungen flattert im Wind

Nicole Schuck: o.T. (Uhu), Hissflagge, Gravenhorst, Digitaldruck auf Polyestergewebe, 250 x 100 cm. Foto: Nicole Schuck

Drei auf Stoff gedruckte Zeichnungen werden im Stadtraum gehisst, um gemeinsam mit den Vögeln und dem Wind zu spielen. Sie markieren die Zugehörigkeit der Tauben, stellvertretend für alle Wildtiere Basels, zu einem geteilten städtischen Lebensraum. Je nach Windstärke entfalten sich die Motive oder verschwinden im unbewegt herabhängenden Stoff – ein ständiges, lebendiges Auf- und Abtauchen: Wie in freier Wildbahn entziehen sich die Tiere von Zeit zu Zeit unserem Blick.

Innovative Antworten auf die Klimakrise

Das KlimaKontor Basel initiiert übergreifende, partizipative Kunst-Projekte. Ziel ist ein regionaler, gleichermassen utopischer wie konkreter Diskurs zur Zukunft des Planeten, der von Neugierde, Verantwortungsbewusstsein, Optimismus und Gestaltungsfreude geprägt ist.

Eine Photogalerie von der Eröffnung am 7. April 2021 finden Sie in unserer Mediathek.

Während der Ausstellung ‹Rough Love› haben Gespräche stattgefunden. 

Sa 10.04.2021, 17:00 Uhr: Behausungen

Mit Iris Scholl und Friederike Kluge

Friederike Kluge ist Professorin für Baukonstruktion und Entwerfen an der Hochschule Konstanz und Teil von Countdown 2030, einem Zusammenschluss von Architekturschaffenden, die sich mit zukunftsfähiger Baukultur auseinander setzen. Iris Scholl beschäftigt sich mit der Vogelwelt im Siedlungsraum, im Speziellen mit Gebäudebrüter. Als Seglerbeauftragte der Stadt Zürich betreut sie die Dohlennistkästen am Grossmünster Zürich sowie die beiden Taubenschläge am Stauffacher und am Hauptbahnhof Zürich.

Di 13.04.2021, 19:00 Uhr: Stadttiere essen

Mit Sandra Knecht und Rainer Hagencord

Sandra Knecht setzt als Künstlerin Kochen als zentralen Bestandteil ihrer Arbeit ein. Ihre Esshappenings hat sie u.a. an der Biennale in Venedig, im Museum Tinguely, am KKL Luzern sowie am Locarno Film Festival gekocht. Rainer Hagencord ist Zoologe und Gründer vom Institut für Theologische Zoologie Münster, das sich für eine theologische Würdigung von Tieren einsetzt.

Sa 17.04.2021, 17:00 Uhr: Eigenwert – ökonomischer Wert

Mit Braida Dür und Markus Wild

Braida Dür ist Biolandwirtin, Agronomin und Bank-Verwaltungsrätin. Sie engagiert sich für die Integration der vielfältigen, unverzichtbaren, nicht ökonomisch bewerteten Leistungen unserer agrikulturell geprägten Natur. Markus Wild hat eine Professur für Philosophie an der Universität Basel. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Tierphilosophie und die Frage nach dem Geist bei nichtmenschlichen Tieren.

Sa 24.04.2021, 17:00 Uhr: Wildtier-Mensch Nachbar:innenschaft

Mit Charlotte Blattner und Daniel Küry

Charlotte Blattner ist Rechtswissenschaftlerin im öffentlichen Recht mit Expertise im Tier- und Klimarecht. Sie hat den Basler Primatenfall rechtsberatend begleitet, mit welchem mittels Volksinitiative nichtmenschlichen Primaten das Recht auf Leben zugestanden werden soll. Daniel Küry ist Biologe und Mitinhaber des Ökologiebüros Life Science AG in Basel. Neben gewässerökologischen Themen bearbeitet er im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit Projekte zum Vorkommen, zum Schutz und zur Förderung von Tieren und Pflanzen in urbanen Lebensräumen.

‹Erzählen mit Tauben›
Konzept– Seraina DürJonas Gillmann
Architektur Taubenschlag, Photos – Anne Linke
Beratung Narration – Sara Bernasconi

‹Geschätzte Tiere›
Konzept und Umsetzung der Zeichnungs- und Flaggeninstallation: Nicole Schuck

Zusammenarbeit mit dem KlimaKontor Basel und dem Neumarkt Zürich, gefördert durch m2act des Migros-Kulturprozent

Gillmann und Dür kümmern sich um die Tauben, beobachten sie und eben: Lassen sich von ihnen inspirieren. Und diese Inspiration ist offenbar schier endlos. Da ist das einst zahme Wildtier, das mitten unter uns lebt, da sind die Besucher, deren Stimmungen sich auf die Tiere übertragen, da ist das Miteinander unter den Tauben, da ist die Klappe nach draussen, durch die die Vögel wiederkommen – oder eben nicht. Und da öffnen sich auch ganz metaphorische Themengebiete: Wem gestehen wir welchen Raum zu und was passiert, wenn das verändert wird?
BZ Basel
Die vier Protagonisten schildern durchweg Entwicklungen in ihrem Verhältnis zu den Tauben. Seraina Dür berichtet von der Überwindung des anfänglichen Ekels, der Entwicklung eines Gefühls und dem Aufbau von Beziehungen. Jonas Gillmann beschreibt das Arrangement mit Ambivalenzen, das Aufscheinen einer Utopie in dieser vergleichsweise dystopischen Umgebung und Verbindungen, die nicht auf Kontrolle beruhen. Anne Link, die Stadt als ‹urbanes Ökosystem› definiert, begeistert der Gestaltungswille der Tauben. Nicole Schuck ist erfüllt von der Wertschätzung für Wildtiere und Mitgefühl für Tauben, deren Population, ähnlich wie menschliche Gesellschaften zerfällt in eine gut gestellte Oberklasse und ein verelendendes städtisches Prekariat. Die Tauben erzählten so in einer mittel- und längerfristigen Begegnung Geschichten, die die Betrachtenden zum Nachdenken bringen.
Badische Zeitung
Allein die Geräusche, die entstehen, versetzen einen in eine friedvolle Stimmung: das Tippeln, Schnabelticken, Flügelflattern. Und dann ist da dieses Gurren, das sich so anhört wie das von einem Embryo im Mutterleib vernommene vorfreudige Gespräch der werdenden Eltern – man versteht kein Wort, aber es wird schon alles gut.
Berliner Zeitung