Kaegis Klaenge: Wagners patriarchale Seifenoper

Kaegis Klaenge: Wagners patriarchale Seifenoper

Kaegis Klaenge, ein Podcast des Theater Basel

Genie und Schmarotzer, Brückenbauer und Bruchpilot, Joinst und Frauenliebhaber, Weltentwerfer und Kontrollfreak, Klangmagier und Korinthenkacker, Anarchist und Antisemit. Das alles und noch viel mehr ist Richard Wagner. Ein Mensch, ein Künstler, der durch und durch polarisiert. Dennoch, oder deswegen beschäftigt sich das Theater Basel jetzt und in den nächsten Jahren mit ihm und seinem Hauptwerk ‹Der Ring des Nibelungen›. Das sind vier Opern, 16 Stunden Musik, über 100 Musiker:innen im Orchester, unter der Bühne, 14 Solist:innen auf der Bühne, Statisten und Kinder nicht mitgerechnet. Das ist Richard-masslos-Wagner! Hallo und herzlich willkommen zu diesem Podcast!

[Musik aus dem Stück - Ritt der Walküren]

Der ganze Ring also, jetzt auch hier in Basel. Dabei könnten wir doch einfach nach Zürich oder Bern fahren. Dort sind die Theater auch gerade mit einem Ring am tun. Frage also an den Intendanten und Regisseur Benedikt Von Peter, warum braucht Basel jetzt auch einen Ring?

Benedikt von Peter: Ja, ich habe gedacht, das ist mal wieder dran. Also es gibt ja einfach ein paar wenige grosse Komponisten der Musikgeschichte, und da ist Wagner fraglos einer, auch wenn man an ihnen grosse fragen hat und haben kann, wie wir das auch haben. Und weil es auch ein Komponist und Autor ist, vor allen Dingen, die man jetzt gerade sehr stark befragen muss. Und aber jetzt gibt es ein Stück über einen alten weissen Mann, und das ist lustigerweise im Schauspiel, wird das jetzt sehr oft gemacht, dieses Stück, weil das wahrscheinlich so diese Frage nach dem Patriarchat und nach dieser Machtstruktur, die Wotan dort hat, tatsächlich bespricht, dieses Stück. Und diesen Arm verlängern wir also, das Thema war der Grund, aber auf jeden Fall auch, dass Basel auch mal wieder einen Ring machen muss. Also wie man die neuen Sinfonien von Beethoven hört, muss man irgendwann mal einmal den Ring ausgehalten haben. Das ist einfach ein Teil Theatergeschichte, der enorm ist. Es gibt kein anderes Stück von 16 Stunden da ist, und wir alle gucken Serien, also wir kennen das mittlerweile, die damals noch nicht.

Gabriela Kaegi: Der alte weisse Mann im Ring heisst Wotan, Göttervater, Patriarch, der um Geld und Macht kämpft, der eine grosse Sippe um sich schart und sie wie Figuren auf dem Schachbrett herumschiebt.

Benedikt von Peter: Ja, es ist schon... es sind für mich immer auch die Männerbilder, die Wagner hat, also ich habe Parsifal gemacht und Meistersinger, und da gibt es ja immer die zentrale männliche Figur mit ihrer Verletzung. Sachs oder Amfortas, und da gibt es den Helden Parsifal oder Stolzing. Die sind so ein gutes alter Ego von dieser Figur. Also die der verletzte Mann in der Mitte nachher versucht, die Wunde zu heilen. Das ist immer eine ähnliche Matrix bei Wagner mit seinen Spiegelmännern. Also, der spiegelt sich durchs ganze Stück, und das ist schon ein wahnsinnig auktorialer und hegemonialer Ansatz, den Wagner da hat. Also ist es nicht unberechtigt, dass man sagt, das Ding ist auch toxisch, und und diese Männerfigur irgendwie aus dem Sattel zu kriegen, hat mich interessiert.

[Musik aus dem Stück]

Gabriela Kaegi: Und so geht es weiter in diesem Podcast des Theater Basel zu Wagners Ring. Gleich erzähle ich ihnen so kurz wie möglich und so detailliert wie nötig, was in der ersten der Opern, im Rheingold, passiert. Danach, wie die Story in der Walküre, der zweiten Oper, weitergeht. Die kommt ja hier in Basel bereits eine Woche nach dem Rheingold zur Aufführung. Weiter hören wir von Benedikt von Peter und Caterina Cianfarini, dem Regieteam, wie sie gedenken, den Göttervater vom Thron zu stossen, und überhaupt, wie sie die Geschichte erzählen. Und schliesslich konnte ich auch noch den Dirigenten Jonathan Nott treffen, der uns Einblicke in die spezielle Kompositionsweise von Wagner gibt, Stichwort: Leitmotive.

[Musik aus dem Stück].

Insgesamt 35 Figuren treten auf im ganzen Ring, das sind rund acht pro Oper. Mit denen, die in mehreren Teilen vorkommen, wären es dann 14 pro Oper, eine enorme Zahl. Es gibt aber auch Figuren, die treten einmal auf und dann nie wieder, oder andere machen eine ganze Oper lang Pause. Wagner hat aus dem vollen geschöpft, germanische und nordische Sagen studiert, sich nach Lust und Laune darin bedient und nach seinem Gusto zurecht gezimmert und dabei nie aus den Augen verloren, wie man Spannung erzeugt. Bisweilen hat man das Gefühl, man befindet sich in einer Telenovela oder in einer TV-Soap. Sie erinnern sich vielleicht an Dallas oder Denver oder meinetwegen auch Lüthi & Blanc, das war sicher auch figurenreich und manchmal verwirrend und manchmal seicht, aber es war immer spannend. Das ist auch Wagners Ring. Los geht's: das Welten-Es, der lange, lange Ton am Anfang, mit dem der Rhein und überhaupt die Welt erschaffen wird, den hören wir jetzt schon seit einem Weilchen. Auf diesem Es gewissermassen schwimmen die Rheintöchter herum. Sie überwachen das Gold, das auf dem Grund des Rheins liegt. Wer diesen Schatz besitzt und sich daraus einen Ring schmiedet, hat unendliche Macht, muss aber als Preis dafür der Liebe abschwören. Die schönen Nixen machen sich einen Spass daraus, den hässlichen und lüsternen Zwerg Alberich zu necken und ihn ins Leere laufen zu lassen.

[Musik aus dem Stück]

Als Alberich erkennt, dass die drei Grazien sich nur lustig über ihn machen, verflucht er die Liebe, schnappt sich den Schatz und verschwindet unter der Erde in Nebelheim. Damit haben die Rheintöchter nicht gerechnet.

[Musik aus dem Stück]

Die beiden Riesen, Fafner und Fasolt, haben für Wotan eine Burg gebaut, Walhalla, und als Lohn hat er ihnen Freya versprochen, die Göttin der Jugend und der jugendlichen Liebe. Freya ist die Schwester Frickas und Fricka ist Wotans Ehefrau, und die findet diesen Handel ziemlich daneben und setzt wird dann so lange unter Druck, bis er den Riesen anstelle von Freya das Rheingold anbietet. Das ist aber bereits bei Alberich, und so müssen Wotan und sein vertrauter Loge, das ist der Gott der Lüge, nach Nebelheim hinabsteigen.

[Musik aus dem Stück]

Mit einer List nehmen Wotan und Loge dem Zwerg den Schatz ab, auch den Tarnhelm und den Ring, den verflucht Alberich: «Zeug sein Zauber Tod dem, der ihn trägt». Wieder oben angekommen möchte Wotan den Ring eigentlich lieber behalten, aber Erda, die Erdgöttin, erscheint und mahnt ihn: «Flieh des Ringes Fluch». Wotan gibt den Ring also den Riesen, die geraten sogleich in Streit und Fafner erschlägt den Bruder Fasolt. Die Götter beziehen nun die neue Burg. Im Rhein beklagen die Rheintöchter den Raub des Goldes.

[Musik aus dem Stück]

Das ist in Kürze, was im Rheingold am Vorabend passiert. Jetzt also kann das grosse Bühnenfestspiel beginnen: Der erste Tag, ‹Die Walküre›. Dazwischen –sozusagen im Zeitraffer –ist aber noch einiges passiert. So hat sich der Riese Fafner in einen Drachen verwandelt und hockt nun in einer Höhle auf dem Rheingold, auch auf dem Ring, den aber möchte der Wotan zurück. Deswegen zeugt er mit einer Menschenfrau Siegmund. Der wird das dereinst für ihn richten. Siegmund hat eine Zwillingsschwester, Sieglinde heisst sie. Das Mädchen wird verschleppt, die Mutter erschlagen. Die Kinder wachsen also getrennt auf, und Sieglinde wird später mit Hunding zwangsverheiratet. Und weiter hat Wotan dann noch mit Erda ein Kind gezeugt, Brünnhilde, und sie wird seine Lieblingswalküre. So viel zum voraus, und so fängt es an.

[Musik aus dem Stück]

Siegmund, mittlerweile erwachsen, wurde im Kampf verwundet und sucht jetzt Schutz. Er findet das Haus von Sieglinde, die ihn aufnimmt und pflegt und ziemlich schnell von ihm angetan ist. Er ist so anders als ihr roher Gatte Hunding. Dieser toleriert zwar den Gast für eine Nacht, kündigt ihm aber für den nächsten Tag einen Zweikampf an. Nachts zeigt Sieglinde dem Gast das Schwert, das in der Esche steckt. Das hat dann dort einst Wotan hineingestossen, und nur der richtige wird das herausziehen können und mit ihm siegen. Siegmund ist der richtige. Dabei erkennen die beiden, dass sie Geschwister sind, aber auch, dass sie sich lieben und begehren. «Er zieht sie mit wütender Glut an sich», schreibt Wagner im Libretto, und: «der Vorhang fällt schnell». Inzest, das ist für Fricka ein Frevel gegen die göttliche Ordnung und Wotan muss ihr versprechen, dass Siegmund im Kampf fallen wird.

[Musik aus dem Stück]

Jetzt kommen die Walküren ins Spiel. Walküren, Betonung auf der ersten Silbe, sind Kriegerinnen, die für Wotan in die Schlacht ziehen, dort die toten Helden einsammeln und sie nach Walhall bringen, wo sie Wotan beschützen sollen. Walküren sind aber auch Todesbotinnen, denn wem sie erscheinen, der stirbt. Brünnhilde also soll nun im Kampf Siegfried zu Fall bringen als Strafe für seine Liebesnacht. So lautet der Auftrag, den Wotan seiner Lieblingswalküre erteilt hat. Aber dann wird sie von Mitleid ergriffen über diese Liebe, so dass sie sich über Vaters Befehl hinwegsetzt. Und grad ist Siegmund am Siegen, da greift, Wotan in den Kampf ein, haut das Schwert in Stücke, Hunding tötet Siegmund und Brünnhilde muss fliehen. Sieglinde nimmt sie mit sich, die ist schwanger von Siegmund. Das Kind wird sie erst in der nächsten Oper zur Welt bringen. Cliffhanger-Meister Wagner.

[Musik aus dem Stück]

Wotan ist zornig über Brünhildes ungehorsam. Er schmeisst sie aus dem Kreis der Walküren raus und küsst ihr die Gottheit ab. Als sterbliche Frau verbannt er sie dann auf einen Felsen, schlafend, und dem Mann, der sie findet, werde sie zum Weib. Auf Brünhilde inniges Flehen mildert er seine Strafe und legt wenigstens einen schützenden Feuerkreis um sie, der nur von einem furchtlosen Helden durchschritten werden kann. Dann nimmt er Abschied von ihr. Zweiter Cliffhanger am Ende der Oper.

[Musik aus dem Stück]

So wird die Geschichte im Libretto erzählt, und das stammt ja bekanntlich aus dem vorletzten Jahrhundert, und man muss auch nicht lange suchen, bis man Ausdrücke wie «weichherzigen Weibergezücht» findet und Sätze wie «dem herrischen Mann gehorcht sie fortan. Am Herde sitzt sie und spinnt.» Aber da war ja auch noch die Lust von Benedikt von Peter, Wotan, dem weissen alten Mann und mit ihm auch Richard Wagner den Stecker zu ziehen. Und wie macht man das hier in Basel?

Benedikt von Peter: Jetzt haben wir Brünnhilde nach vorne in den ersten Teil gelegt und sie ist, unsere Erzählerin, unsere Tanja Blixon aus ‹Jenseits von Afrika›, die eigentlich da am Anfang die Stimme erhebt. Also, wir werden Schnitte machen in der Musik, wo es ein Voiceover gibt, was sie auch spricht. Es gibt Pausen, es gibt Szenen, die durch Pausen unterbrochen sind, und es gibt Momente, die wichtig sind. Und ihr erster Satz ist: «Ich möchte wissen, wie alles begann, ich versuche, mich zu erinnern, wie alles begann. Also wie bin ich an diesen Punkt gekommen, wo ich jetzt bin, wo ich Wallhall anzünden soll»? Eine Frau erinnert sich zurück und versucht, diese Familiengeschichte zu verstehen, und vor allen Dingen versteht sie, dass dieser Vater wie ein Schachspieler alle auf seinem Schachbrett hatte.

Gabriela Kaegi: Mit Brünnhilde beginnt also alles. Sie spricht zu uns gleich zu Beginn des Rheingold, obschon sie da noch gar nicht gezeugt ist. Brünnhilde tritt auch auf im Rheingold, erst als Kind und auch als Puppe, und an ihrer Seite ihr künftiger Liebhaber Siegfried. Der ist aber zwei Opern lang noch Sternenstaub. Kinder, Puppen, singende Erwachsene, Caterina Cianfarini, die Co-Regisseurin, über diese verschiedenen Ebenen.

Caterina Cianfarini: Also, wir haben auf der Bühne die Brünnhilde, die zurückschaut. Brünnhilde, die auf ihre Familiengeschichte schaut und in der aufwachsenden nachfolgenden Generation ihr Aufwachsen wieder gespiegelt sieht. Die nachfolgende Generation sind: Der kleine Siegfried, und unser Reingold beginnt ja mit dem fünften Geburtstag vom Siegfried. Der bekommt das Puppentheater geschenkt, und Wotan erzählt ihm die Geschichte. Von diesem Keim des Geschichtenerzählens Wotans an die nachfolgende Generation sehen wir in der ersten Szene die beiden Kinder auf der Bühne, Siegfried, Brünnhilde, die diese Geschichten erlebt haben. Wir sehen die erwachsene Brünnhilde, wie sie das wieder erlebt, und wir sehen die Puppen, wie sie aus dem kleinen Puppentheater überlebensgross lebendig werden auf der Bühne. Also, wir sehen dieselben Puppen in klein und gross, und wir sehen gleichzeitig auch das, was hinter der Geschichte liegen könnte, nämlich das, was Wotan vielleicht durch seine Märchen versucht, ein bisschen aus dem Blickfeld zu schummeln. Das heisst, wir sehen, Wotan mit drei Frauen, die während der Familienfeier des Geburtstags von Siegfried sich verlustieren, im Haus und im Garten. Das heisst, das ist vielleicht ein bisschen Coverage, was da passiert, durch die Märchen, und man wird sehr beschäftigt damit sein, die Ebenen auseinander zu sortieren.

Gabriela Kaegi: Der Basler Ring ist also ein recht kühnes Unterfangen. Ja, sagt Caterina Cianfarini:

Aber es ist sehr besonders, Wagner so zu lesen, als eine Art von Figurentheater, als eigentlich ein Schauspiel. Was es auch ist. Es gibt keine wiederholten Refrains, es gibt keine Arien in dem Sinne, es gibt nur Erzählungen, und es geht immer weiter, und es gibt sehr viel Text, der sich nicht wiederholt. Wir holen diesen Text eigentlich an den Zuschauer ran.

Gabriela Kaegi: Und auch am Ende der Walküre, als der Gott die harte Strafe über seine Lieblingstochter verhängt und sich von ihr unter Tränen verabschiedet, lässt das die Basler Produktion so nicht unkommentiert stehen, wie Caterina Cianfarini erläutert:
Brünnhilde wird in den Feuer Kreis gelegt, woraus sie sich bei uns aber recht schnell befreit, bei uns kommt sie sehr schnell ins Handeln, auch danach wieder ohne Mann. Das passiert ja sowieso alles in ihrer Erinnerung, das heisst, manchmal kann man nicht unterscheiden: war das wirklich so? Ist das ein Wunschdenken gewesen, oder wie sollte es eigentlich sein? Oder vielleicht hat man hat die auch auf den Wunsch, die Geschichte im nachhinein zu verändern. Man hat den Wunsch, dass das irgendwie möglich ist, und ich glaube, diese Versuche spielen eine grosse Rolle in der Walküre, besonders in der Walküre, und es gibt eine eine Vision am Ende von der Walküre, die vorausblicken lässt auf den Siegfried.

Gabriela Kaegi: ...der ja derjenige sein wird, der Brünnhilde aus dem Feuerkreis herausholt. Aber da sind wir dann schon wieder in der nächsten Geschichte. Die musikalische Leitung dieser Basler Produktion hat der Dirigent Jonathan Nott übernommen. Er ist Chef beim Orchestre de la Suisse romande in Genf, Chef in Tokio beim Sinfonieorchester und Chefdirigent der jungen deutschen Philharmonie. Bereits 2013 hat er zu Wagners 200. Geburtstag in Luzern beim Festival einen konzertanten Ring dirigiert. Präsent und transparent wurde sein Wagnerklang beschrieben, mit Tiefe und innerem Feuer. Ganz anders wird das hier in Basel sein. Hier in Basel wird der Dirigent und das Orchester nicht zu sehen sein, denn der Orchestergraben ist zugebaut, wie in Bayreuth.

Jonathan Nott: Also, das Orchester ist unter der Bühne, mit einem Gitter oben, und es gibt natürlich schon transparente Sachen darin. Das Orchester ist nicht gedeckt im Sinne von akustisch gedeckt, aber auf jeden Fall visuell gedeckt. Und wenn das Orchester unten ist, gibt es eigentlich einen fantastischen Klang und ähnlich wie in Bayreuth ist das ein bisschen anderweltig, und das finde ich super. Wenn wir Glück haben.

Mit «unterweltig» meint Nott wohl auch den dunklen Wagnerklang, den er hier sucht, und dafür bittet er seine Musiker:innen:
Ich sage bitte, nehmen Sie die die dunkelste Farbe für diese Stelle, und dann kann man sagen, hier ist der Kontrabass, fügen sie die Melodie in diese dunkle Farbe hinein. Und sobald man das macht, dann hat man im Streicheklang nicht mehr eine Brillanz, in den ersten Geigen. Das ist dunkel, hat mehr Poesie, hat mehr... nimmt das Herz mehr mit, glaube ich. Und das ist ein Orchesterklang, der üppig ist, aber nie deckend ist, wenn die Poesie von irgendwo kommt. Und je mehr man man reduziert, die Lautstärke der obersten Noten, verstärkt das, dass der Bass voll und rund wird. Aber das Herz von jedem Satz sind die Mittelstimmen, und die müssen lauter, natürlich sein. Das heisst, der Klang wird vielleicht nicht ausgekostet, überdosiert, in dieser Sahne-Creme-Saucen-Manier. Das ist, was ich nicht haben will. Es hat für eine Epoche sehr, sehr gut funktioniert, aber es darf nicht überpompös, überfett daherkommen, da die Welt in 2023 nicht so ist, wie noch 1950!

Gabriela Kaegi: Wagner, das muss auch noch gesagt werden, hat so ziemlich alles erneuert, was bis anhin in der Opernwelt als gut und gültig galt. Er ist sein eigener Librettist, ein absolutes Novum, denn kein anderer Komponist hätte sich das zugetraut, nicht einmal Schumann, der ja selbst dichterische Ambitionen hatte. Wagner gibt auch dem Orchester eine neue, gewichtige Rolle. Er erfindet neue Instrumente, die Wagner-Tuben zum Beispiel. Er verlangt 18 Ambosse im Rheingold, und er hört auf, in Rezitativen und Arien, in Ensembles und Chören, – kurz: Nummern seine Akte zu strukturieren. Das ist ihm viel zu kleinteilig. Er will einen kontinuierlichen Klangfluss, die unendliche Melodie, das Gesamtkunstwerk schlechthin, was dann eben auch zu dieser rauschhaften Musik führt. Im Inneren wird seine Musik durch kurze Motive zusammengehalten: Leitmotive, die Personen charakterisieren oder Gegenstände oder Orte oder Emotionen. Leitmotive künden an, erinnern, verbinden, warnen, blenden voraus und zurück und kommentieren. Leitmotive sind keine Erfindung von Wagner, die gibt's schon bei Héctor Berlioz und Carl Maria von Weber, aber keiner hat sie so exzessiv betrieben wie er. Sein Ring ist geradezu von einem Geflecht von Leitmotiven durchzogen. 261 sollen es insgesamt sein, haben fleissige Musikwissenschaftler herausgefunden. Keine Angst, da müssen wir nicht durch. Ich habe sie ein bisschen geordnet für sie und spiele ihnen aus jeder Gruppe eines vor. Es gibt also Leitmotive, die Personen charakterisieren: die Riesen, Loge, Freya, Erda oder ie Rheintöchter.

[Klavier spielt Leitmotiv]

Es gibt Natur-Leitmotive, wie das Regenbogen-Motiv, das Wellen-Motiv oder wie hier das Sturm-Motiv.

[Klavier spielt Leitmotiv]

Es gibt Leitmotive für Sachen oder Gegenstände, für den Ring, den Tarnhelm, das Schwert oder für die Verträge, die Wotan so gerne abschliesst, und seinen Speer.

[Klavier spielt Leitmotiv]

Es gibt Leitmotive zu Gefühlen wie Angst, Grübeln, Verfluchung, aber auch für die Liebe.

[Klavier spielt Leitmotiv]

Ja, Wagners Welt im Ring ist eine Leitmotivwelt, möchte man fast sagen. Wie wichtig sind sie also, diese Leitmotive? Ich habe diese Frage noch nicht fertig ausformuliert gehabt. Da ist Jonathan Nott schon zur Stelle:

Wahnsinnig wichtig! Dieses Stück ist ohne das Erkennen dieser Leitmotive zu verstehen. Man ahnt, aber man versteht nicht. Das schönste Beispiel ist diese Vertragsmotiv.

Gabriela Kaegi: Zur kurzen Erklärung: Wotan als Gott der Götter und als oberster Herrscher der Welt ist auch der Erschaffer der Gesetze und Hüter der Verträge. Die sind eingeritzt in den Schaft seines Speers, und den hat er sich aus der Weltesche gehauen.

Jonathan Nott: Okay, so, wenn wir hören [singt Leitmotiv] Das geht von nirgendwo zu nirgendwo nicht nach oben, nicht nach unten, wenn man so will. Wenn man diesem Leitmotiv folgt, denkt man erst mal okay, das ist der Speer. Zuerst ist das ein ganz banales Objekt, aber auf dem Speer sind diese vertraglichen Verhandlungen. Jedes Mal, wo sich eine Skala findet, ist das eine Situation, die irgendwas mit Vertrag oder Gegenvertrag oder gegen Wotan oder bewusst gegen Wotan zu tun hat. [singt Skalen] Der Sturm? Okay, man denkt zum Sturm, Siegmund rennt, rennt weg von Hunding, das ist eine Tonmalerei von Sturm und Flucht. Aber eine Flucht geht in zwei Richtungen einer Skala, das heisst, der Siegmund ist agiert da gegen den Vertrag, den Willen Wotans.

Gabriela Kaegi: Vielleicht ist gerade dieses Wotan-Speer-Vertrags-Motiv ein gutes Beispiel, um zu zeigen, was Wagner alles damit anstellt. Zum Beispiel am Ende der Walküre, wenn sich Wotan den Tränen nahe von seiner ungehorsamen Tochter Brünnhilde verabschiedet. Wotans Wille, unbeugsam wie ein fadengerader Speerschaft, der aber plötzlich eine Krümmung erfährt.

Jonathan Nott: Und dann dann ganz am Schluss [singt]: «Leb wohl du schönes, herrliches Kind...» das ist eine Skala, die steht für Wotans spröde, wenn man so will, Unliebe, ein Geist, der nur durch Verträge gebunden wird – das wird hier gebrochen mit Wiederholung einer einzigen Note, auf sechs und sieben – und das ist Wotans Liebe. Er hat selbst plötzlich Liebe gefunden. Wenn man das nicht weiss, ahnt man natürlich etwas. So schön. Man heult, die Musik ist toll. Wenn man das weiss, dann hört man so wahnsinnig viel mehr.

Gabriela Kaegi: Wagner zeigt also mit Musik, wie sich Wotan durch Liebe verändert.

Jonathan Nott: Er lernt, er lernt natürlich, und er gibt auch. Das finde ich natürlich auch schön. Wenn alle Diktatoren irgendwie plötzlich Liebe fänden, dann wäre die Welt schon besser.

Gabriela Kaegi: Wagner polarisiert. Man mag ihn oder man kann ihn nicht ausstehen oder manchmal auch beides zusammen. So sagt der Dirigent Christian Thielemann, der ja viel Wagner dirigiert, seine Musik mache uns besoffen und abhängig wie Alkohol oder Haschisch, aber eben wesentlich gesünder. Und Leonard Bernstein kurz und bündig: «I hate Wagner. But I hate him on my knees.» Und was meint Jonathan Nott?

Jonathan Nott: [lacht] Ich habe immer gesagt, das ist das grösste Übel der Welt, man wird so süchtig! Aber es ist ja klar bei Wagner und besonders bei diesem Ring, weil das ist so ein grosses Werk, das beschreibt eine Epoche, ein menschliches Leben also, der war 35, als er mit dem Komponieren angefangen hat und 61, als er aufgehört hat. Das ist schon... man hat in diesem Stück dann, wenn man Glück hat, dann natürlich ein gesamtes menschliches Leben. Auf den Knien? Nein ich kann nicht sagen, ich hasse Wagner. Nein, ich habe ihn immer sehr gerne gehabt, ehrlich gesagt.

Gabriela Kaegi: Der Ring, ein Festival. Am 9.und 16. September 2023 sind die Premieren der ersten beiden Opern, das Rheingold und die Walküre, auf der Grossen Bühne des Theater Basel. Dazwischen gibt's Einführungsveranstaltungen, Performances, late-night-Talks und eine partizipative Chorveranstaltung. Der Ring – ein Festival in Basel.