Kaegis Klaenge: Im revolutionären Kollektiv Intolleranza 1960

Kaegis Klaenge: Im revolutionären Kollektiv

‹Intolleranza 1960› Info

Kaegis Klaenge. Ein Podcast des Theater Basel. 
Gabriela Kaegi: Im Auftrag der Biennale Venedig schreibt der italienische Komponist Luigi Nono 1960 eine Oper, nennt sie allerdings azione Scenica. Denn Intolleranza 1960, so der Titel, erzählt keine Liebesgeschichte, auch von keinem Vater-Tochter-Konflikt. Intolleranza erzählt von all dem, was Menschen Menschen angetan haben im 20. Jahrhundert. Gewalt, Unterdrückung, Krieg, Vertreibung, Folter, Faschismus. Mein Name ist Gabriela Kaegi und in diesem Podcast des Theater Basel versuche ich Nonos Musik zu dieser azione scenica näher zu kommen. Und ich möchte auch Sie dazu herzlich einladen. Es helfen dabei mit: Der Regisseur der Produktion, Benedikt von Peter.

Benedikt von Peter: Es ist schon wahrscheinlich ein Werk, was dazu herausfordert, dass man nicht den normalen Theaterweg einer Inszenierung geht. Da haben wir einige Sachen versucht.

Gabriela Kaegi:  Der Dirigent Stefan Klingele.

Stefan Klingele: Es geht dann echt unter die Haut, thematisch und musikalisch.

Gabriela Kaegi: Ebenso wie die Sängerin Jasmin Etezadzadeh.

Jasmin Etezadzadeh: Ich finde diese Art der Musik doch relativ eingängig und singe es ganz gerne. Und ich magister gerne grosse Tonsprünge und solche Herausforderungen, die man dann in den Körper holen muss. Und ja, man muss halt viel mit sich arbeiten.

[Musik aus dem Stück]

Gabriela Kaegi: Zuerst die Geschichte, die es gibt, auch wenn Nono keine Oper im herkömmlichen Sinn schreibt. Ein Emigrante sehnt sich in seine Heimat zurück, aus der er einst geflüchtet war. Er verlässt das fremde Land, er verlässt die Frau, die ihn gewärmt hat und ihm Trost gegeben hat. Und sie verflucht ihn dafür. In weiteren neun Stationen gerät er in eine Demonstration, wird verhaftet, verhört, gefoltert. Im Konzentrationslager trifft er einen Kämpfer aus dem Algerienkrieg, mit dem er gemeinsam flieht, trifft dabei auf eine neue Frau, die im Gegensatz zu anderen politisch aktiv ist, sich gegen Krieg und Unheil erhebt. Sie wird seine Compagna, seine Gefährtin, und fortan kämpfen sie gemeinsam für eine bessere Welt. Aber als sie am grossen Fluss ankommen, der die Grenze zu seinem Heimatland bildet, schluckt eine Sintflut alles: Strassen, Brücken, die Compagna den Emigranten. Hier aber singt der Chor aus Brechts Gedicht An die Nachgeborenen zum Schluss: Ihr aber, wenn es so weit sein wird, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist, gedenkt unserer mit Nachsicht.

[Musik aus dem Stück]

Gabriela Kaegi: Ein Wort in eigener Sache. Und zu den Musikausschnitten dieses Podcasts. Das meiste konnte ich selber aufnehmen während der Orchestersitzprobe, mit Betonung auf Probe und vor allem auf Sitzen. Der Chor sass auf der Bühne, das Orchester sass im Saal, ich mit meinem Mikrofon, meist irgendwo am Rande. In den Aufführungen aber wird man einen ganz anderen Klang erleben. Der wird nämlich von überall herkommen, von oben und unten und hinten und vorne, so wie es sich Nono gewünscht hat. Und dort, wo ich keine eigene Aufnahme machen konnte, hat mir YouTube weitergeholfen und Chor und Orchester der Staatsoper Stuttgart unter Leitung von Bernhard Kontarsky. Zum Libretto, das Luigi Nono zu Intolleranza selber zusammengestellt hat: Dafür hat er Texte verwendet, von Brecht, aber eben auch von Jean Paul Sartre, Paul Eluard, Wladimir Majakowski oder Angelo Maria Ripellino. Regisseur Benedikt von Peter sagt dazu:

Benedikt von Peter: Phantastische Texte zum Teil und sind wichtige Texte. Es sind auch zum Teil wirklich Zeitdokumente, also gerade der Majakowski, der Pathetische, dieser Chor, der immer wieder auftaucht. Es sind natürlich auch Texte, die man heute sehr distanziert sieht, wo tatsächlich sich etwas aufrüstet in der Gruppe und losschlagen möchte und das zusammen mit klanglichen Arbeiten von Nono, das ist schon eine Art von Bewaffnung, die da stattfindet, klangmusikalisch, und auch durch den Text.

Gabriela Kaegi: Konkret spricht hier Benedikt von Peter vom Chor der Algerier und der Emigranten am Ende des ersten Teils. «Poltert auf Plätze den Marsch der Empörung / Hoch stolzer Häupter wogendes Feld». Was bei Nono dann so klingt. 

[Musik aus dem Stück]

Dass man in diesem Ausschnitt nicht wirklich viel versteht, hat nichts mit der Qualität des Chores zu tun, sondern das ist Nonos Konzept. Was er damit meint? Hier spricht nicht das Individuum. Hier spricht das Kollektiv, das zusammen für eine bessere Welt kämpft, aber eben auch zusammen Gedanken und Sätze verfertigt. Benedikt von Peter:

Benedikt von Peter: Ja, das ist verrückt. Er vertont das vor allem so, dass keine Stimme ohne die andere kann. Das ist eine ganz spezielle Technik von ihm. Es gibt ja immer diese Figur des Clusters, der gestapelten Klänge, also enorme Tonhäufungen, die übereinander sitzen. 

[Musik aus dem Stück]

…und alle Töne sind gleich und schlagen zusammen los. Es gibt aber diese Figur, die man überall in der Partitur sieht. Und dann gibt es eben diese Textvertonung, vor allen Dingen im Gruppengesang, wo die Silben auf die Gruppe verteilt werden und die Gruppe zusammen einen Satz formt. Und das ist sehr sprichwörtlich für das, was da gesucht wird. Also das finde ich auch toll an diesem Komponisten, dass er das so materialisiert, eine Idee, und dass sie eben in der künstlerischen Praxis dann, also in einem Chorsaal, müssen die eben zusammen einen Satz formen und das ist auch tatsächlich so, also wenn du deine Noten mal kannst, dann macht das nachher trotzdem von der Phrasierung dann Sinn, wenn der Satz von allen zusammen gedacht wird, dann erkennt man plötzlich die Logik von der Komposition.

[Musik aus dem Stück]

Gabriela Kaegi: «E voi siete sordi? Complici del gregge, nella turpe vergogna», heisst das, wenn man den Satz wieder zusammenfügt. «Und ihr, seid ihr taub? Herdenvieh in der schamlosen Schande.» Der Chor der Gefolterten aus Szene fünf, der sich unmittelbar ans Publikum richtet. Inhaltlich macht diese Atomisierung der Sprache Sinn. Und musikalisch? Was sagt der Dirigent Stefan Klingele dazu?

Stefan Klingele: Das ist vielleicht die schwierigste Frage. Denn Nono hat einfach gegen jede Konvention komponieren wollen. Das heisst, er hätte natürlich sehr leicht, er war ja ein guter Komponist, Text verständlich schreiben können, also Silbenabfolgen. Selbst wenn die Silben separat sind oder Wörter zerrissen werden, hätte er das mit wenig Aufwand so schreiben können, dass das Publikum alles versteht. Und dann spüren wir alle, dass das wirklich eigentlich gegen jede Ausbildung, gegen jede Schulung in die Gesangsstimmen gesetzt ist, das ists also tatsächlich ein Problem. Wir bemühen uns wirklich sehr. Und in der Partitur sieht das toll aus. Das ist vielleicht mein einziger Kritikpunkt am Werk an sich, der aber eben mit diesem extremen Ansatz von Nono einfach verknüpft ist. Benedikt löst das so, dass wir Texte auch projizieren. Also jeder kann den Text auch verfolgen und es hilft doch manchmal. Und in dem Fall muss ich sagen, dass der Chor… von Anfang an haben wir geschaut, okay, wie können wir die Silben aufteilen verbessern, dass ein «mmm» oder «ntsch» noch irgendwo sozusagen deutlicher zu verstehen ist, um diese um das Wort als Ganzes wirklich zu kapieren, überhaupt. Und da sind wir weit gekommen. Aber ich glaube nicht, dass man ohne Lesen des Textes das wirklich verstehen würde. Er hat ganz rigoros aus der Partitur, aus der Anordnung gedacht und komponiert, und ich glaube, es war ihm zweitrangig. Hätte er Verständlichkeit haben wollen, hätte er es anders komponiert. Man müsste vielleicht Studioaufnahmen machen, wo wirklich jeder Chorsänger ein Mikrophon vor sich hat, und man müsste vielleicht halb so langsam musizieren. Dann wäre es vielleicht möglich. Aber ich glaube, Nono hat ganz knallhart für das grosse Ganze gedacht und das war ihm am Ende vielleicht einfach irgendwie zweitrangig. Das ist so, also er hat wahrscheinlich in Klängen, in Ballungen gedacht und er wollte partout keine gesungene Melodie, wo man im Ansatz eventuell ein Wort einfach verstehen könnte.

Gabriela Kaegi: Ein anderes Beispiel aus Szene eins: «Trovando», ruft der Chor, «bra- bra- braccia / mani sparse» und das «come foglie secche» geht in der Perkussion unter.

[Musik aus dem Stück]

Gabriela Kaegi: Es gibt einen Prolog, einen Epilog und es gibt zehn Szenen insgesamt und der Chor ist eigentlich immer involviert. Benedikt von Peter:

Benedikt von Peter: Ja, der Chor ist die Hauptfigur. Also das Kollektiv ist die Hauptfigur. Der Emigrant ist eigentlich eher eine Verdopplung vom Zuschauer, der in diesen Chor hineingerät.

Gabriela Kaegi: Der Dirigent Stephan Klingele ergänzt.

Stefan Klingele: Ja, also der Chor als Kollektiv ist unglaublich wichtig. Und zwar nicht nur das Singen, sondern es geht auch schon mit dem Atmen und dem anwesend sein los. Also der Chor hat eigentlich eine ganz unchorische Aufgabe. Eigentlich sind das eben sehr viele Einzelne und in dieser Inszenierung sind sie einzeln. Dadurch ist das Singen eigentlich eher schwierig, weil sie oft eben Publikum zwischen sich haben werden. Und eigentlich sind alle Chorsänger und Sängerinnen wirklich Solisten. Das ist sozusagen Ausgangspunkt eins. Deswegen war die Vorbereitung besonders schwierig, weil die Tonhöhen zu lernen und das ist schwierig, weil es ja auswendig sein muss, ist ein erster, sehr wichtiger Schritt. Aber das ist eben nur Stufe eins. Viel schwieriger wird aus meiner Sicht dann Stufe zwei, eben das Singen in räumlicher, teilweise Trennung und auch dann gleichzeitig noch irgendwie das Publikum an… Ja, ansingen ist falsch, aber mit dem Publikum umgehen. Also ich kann hier ganz deutlich sagen, dass das Publikum nicht sich fühlen wird wie bei einem Mitmachtheater. Aber natürlich gibt es Kontakt und das finde ich unglaublich schwer. Da möchte ich nicht tauschen, da stehe ich lieber dirigierend in der Unterbühne. Also das Singen schwieriger Sachen, mehr oder weniger auf sich allein gestellt, nur über Monitor, wo der Dirigent eher klein zu sehen ist, und dabei authentisch. Jeder für sich selbst eine Geschichte zu erleben, ohne Bruch. Das ist, glaube ich, das Schwierigste. Und das wird jetzt ausgedrückt von Nono. Also in allen Facetten.

Gabriela Kaegi: In allen Facetten heisst, dass der Chor verschiedene Rollen hat, für die Nono unterschiedlichste und höchst differenzierte Musiksprachen findet. Der Musikwissenschaftler und Nono-Spezialist Jörg Stenzel gliedert diese unterschiedlichen Chöre auf in A-cappella-Chöre, wo von Freiheit gesungen wird und wo die Handlung stehen bleibt. In Demonstrationsszenen mit Sprechchören, in Aktionsmusik wie den Majakowski-Marsch am Ende des ersten Teils mit Chor und riesen Schlagzeugapparat in den Gesang der Gefolterten mit Trommeln und rührt Trommeln in den Gefangenenchor mit Vibraphon, Harfe und Becken. Der Dirigent Stefan Klingele:

Stefan Klingele: Also der Chor, hat tatsächlich mindestens im ersten Teil strukturell auch die Hauptaufgabe, wirklich immer diese Zustände zu beschreiben. Wir singen ein Strophenlied nach einem Text von Eluard, der auf dem Boden liegend beginnt und eben auch eine verträumte Sache ist und zum Schluss in den Wunsch nach Freiheit mündet. Also am Ende heisst es praktisch «Ich will… also, ich schreibe deinen Namen Freiheit Libertà» und das ist sozusagen und davor geht es aber wirklich mit sehr schwierigen Tonfolgen und auch in wirklich räumlich unangenehmen, unbequemen Haltungen aus einem ruhigen Zustand, sozusagen hinüber in stufenweise, in einen Revolutionszustand. Und diese grossen Strecken, die sind schwer zu singen, schwer zu spielen, schwer zu synchronisieren. Und das ist schon der Wahnsinn. Deshalb wird das Stück, wenn es angesetzt wird, eigentlich immer auf den Chor hin überprüft, ob man das schafft und damit hat Michael Clark als Chordirektor, glaube ich, mit seinem Chor im März angefangen. Also es ist fast ein Jahr her und anders geht es leider auch nicht.

Gabriela Kaegi: «Auf die Felder, den Horizont, auf die Schwingen der Vögel und auf die Schattenmühle schreibe ich deinen Namen», so beginnt La Liberté, Text von Paul Eluard, in der sechsten Szene. 

[Musik aus dem Stück]

Gabriela Kaegi: Und weiter sagt Stephan Klingele zu den verschiedenen Chören.

Speaker 1: Die ganzen Sprechdinge, das ist relativ einfach. Da ist ein Wumms dahinter. Da hat man grosse Trommeln, Militärtrommeln. Da kann man nicht so sehr danebenliegen. 

[Musik aus dem Stück]

…Und es gibt ungefähr zehn Minuten sehr schön gesungenes, Sphärisches. Das ist so eine Reminiszenz, wo betrachtet wird, die Gedanken des Emigranten, wie er an die «montagne, boschi» und so denkt, also an die Erinnerungen an die Heimat, so eine Vision von Heimat. Benedikt sagt immer der Engelschor. Es ist eine Überleitung, die einen Handlungsstillstand darstellt. Und also diese Art Chöre, das sind, würde ich sagen, die schwierigsten, wo der Klang schwierig zu finden ist.

[Musik aus dem Stück]

Gabriela Kaegi: Neben den grossen Chören, dem Kollektiv, gibt es auch Solisten, eben den Emigrante, den der Regisseur Benedikt von Peter als Spiegel des Publikums bezeichnet. Es gibt zwei Frauenrollen, die Donna und die Campagna. Und von beiden sagt der Regisseur Benedikt von Peter:

Benedikt von Peter: Man hat einmal diese bürgerliche Ideologie der Donna. Das ist tatsächlich sehr zeitgeschichtlich und übrigens auch extrem sexistisch. Die ihm sagt: «Du suchst die grosse Idee. Aber in dem Elend, wo wir gerade sind, hast du doch mich, und uns geht es gar nicht so schlecht.» Und das ist das Individuelle, das von Nono sehr stark stigmatisiert wird. Die wird nachher auch rausgeworfen. Also da gibt es eine eigenartige Regieanweisung, wo die praktisch ausradiert wird auf der Wand und einfach gekillt wird. Weil das Individuelle, das Bürgerliche nicht sein darf und in der Konstruktion des Kollektivs oder in der Idee von Nono, wie das Kollektiv zu sein hat. Und dagegen gibt es dann diese Compagna, seine Gefährtin, ein ganz hoher, leuchtender Sopran. Zauberhaft. 

[Musik aus dem Stück]

Die tritt bei uns nicht auf, die ist bei uns eine Stimme von oben oder eine Stimme auch, die sozusagen tatsächlich plötzlich was Ideologisches reinbringt, wo die plötzlich anfangen, sich so etwas nicht greifbaren zu verpflichten und die nachher auch in den Satz rausgibt «spettro sparisci» also Schatten, verschwinde! Der Schatten dieser donna soll verschwinden, der Schatten auf dem Leben vom Emmigranten nämlich die bürgerliche Ideologie und die zusammen in der Regieanweisung radieren diese Donna aus. Also das ist schon auch so ein Moment, wo man dann so Ideologiegeschichte beobachten kann. Im 20. Jahrhundert, wo dann plötzlich die Gruppe sich nur noch formen kann, wenn sie ein Opfer hat.

Gabriela Kaegi: Das Opfer, in Anführungszeichen, diese donna, wird von Jasmin Etezadzadeh gesungen. Sie sagt über diese Rolle:

Jasmin Etezadzadeh: Das ist eigentlich eine ziemlich tragische Liebesgeschichte, die dann letztlich, also ursprünglich im Notentext wird sie ein totaler Nazi. Das haben wir aber so nicht in dem Masse interpretiert. Also natürlich, das, was sie sagt, ist furchtbar. Ich habe ja jetzt einen deutschen Text, und da muss man beim Lernen immer aufpassen, dass man das nicht vor sich her murmelt in der Öffentlichkeit, weil dann jeder gedacht hätte du bist irre. Ja, eigentlich tut sie mir auch leid. Und wir haben es ja so interpretiert, dass sie auch weiss, dass sie die Geschichte kennt und dass sie die einzige ist, die weiss, was es bedeutet, wenn so ein Kampf ausbricht und so was. Sie ist eigentlich im übergeordneten Sinne, in manchen Momenten fast eine Kassandra. Also das ist jetzt ein bisschen pathetisch, aber es geht schon in die Richtung. Sie ist total verletzt, sie liebt ihn, er lässt sie hängen und dann rastet sie halt total emotional aus, ist aber eigentlich diejenige, die dann am Ende bei uns in der Interpretation irgendwie sieht «Aha, okay, also ja, das ist euer neuer Glauben, eure neue Hoffnung, gut.» Sie wird ja rausgeschmissen sogar. Und das ist ja für sie ein totaler Verlust. Sie verliert alles, ihren Mann, ihre Community, ihre Gesellschaft. Und sie ist dann draussen. Und so tragisch das ist, denke ich manchmal, wenn ich das dann spiele und dann da vor diesem eisern bin und rausgeworfen wurde, dann denke ich ja, aber sie ist jetzt diejenige, die in der neuen Welt was Neues schaffen kann.

Gabriela Kaegi: Das ist die Auftrittsszene der Donna. 

[Musik aus dem Stück]

Bleibe, bleibe. Erst noch sanft bittet sie den Emigrante, bei ihr zu bleiben. Dann wird es flehend, und schliesslich verflucht sie ihn.

[Musik aus dem Stück]

Jasmin Etezadzadeh: Das ist sehr schwer zu singen. Es ist sehr hoch und sehr tief und ich muss mich sehr viel bewegen, also viel rumlaufen, rennen, teilweise ja sogar schreien, kämpfen. Ja, Es ist also eine echte Herausforderung. Und ich will dieser Frau eine Authentizität geben und versuche das einfach über das Spiel und über den Gesang zu schaffen.

Gabriela Kaegi: Sehr hoch, sehr tief, sehr laut und oft auch gegen ein Orchester voller Blech und Perkussion. Der neuen Musik sagt man auch gern mal nach, dass sie mit den Stimmen nicht wirklich pfleglich umgeht. Nono auch, Jasmin Etezadzadeh?

Jasmin Etezadzadeh: Finde ich nicht. Also ich hatte jetzt auch Partien gesungen, da muss man sehr viel mit der Atmung machen und so sehr harten Glottis benutzen. Und einatmend irgendwelche Geräusche machen und knarzen. Knarzen wäre jetzt nicht so schlimm, aber wenn man es beim Einatmen macht, ist das nicht besonders stimmfreundlich. Aber das ist ja einfach gesungen und wir haben ein tolles Orchester. Wir haben das Orchester sogar aufgeteilt. Die Streicher sind grösstenteils unter der Bühne, die Bläser sind in dem Turm und das Schlagwerk ist um uns herum. Also das ist schon… Also ich finde es ganz cool.

Gabriela Kaegi: Als Luigi Nono Intolleranza 1960 komponiert, will er das Theater…

Männerstimme: Nicht mehr als Kirchenmesse mit Publikum, das zuschaut, sondern selbst teilnimmt.

Gabriela Kaegi: Ein Theater also, das im ganzen Saal stattfindet und…

Männerstimme: Die Stimmen, Gesänge und Instrumente überall auf oder hinter der Bühne, diffus im Saal, aber von den Seiten zu hören rechts, links, oben, unten, überall.

Gabriela Kaegi: Der Regisseur Benedikt von Peter nimmt diese Vision von Nono ernst. Das Orchester ist im ganzen Bühnenraum verteilt, das Publikum sitzt im Klang drin, in nächster Nähe zu den Instrumenten, zu Chor und Solist innen.

Benedikt von Peter: Ich weiss nicht. Ich glaube einfach daran, dass man mehr über den Körper als über den Kopf lernt und auch erlebt. Und dass Musik aus sich heraus ein 360-Grad-Phänomen ist und dass diese Erfahrungen, die man da sammelt, im Raum… waren für mich immer schon wertvoller als Erfahrungen, die man aus einem Buch oder von vorne mitnimmt. Und ich glaube, dass dieses Teaching, was dieses Stück auch möchte, dass man das einfach nur im Raum auflösen kann, weil ich glaube, dass die Dinge, die dort passieren und die auch klanglich musikalisch passieren und die… wofür er Ausdruck gefunden hat, musikalisch, extrem stark sind, mit dem Körper viel anstellen. Aber vielleicht, wenn man das von vorne so verkündet, dass es irgendwie schmierig wird und altbacken und dass man einfach in der Realität dieses Klanges stehend mehr erfährt über vielleicht Gruppe und Kollektiv, als wenn man das von vorne anguckt.

Gabriela Kaegi: Und damit das auch noch geklärt ist, sagt der Dirigent Stefan Klingele zum Schluss.

Stefan Klingele: Nein, das ist kein Mitmachtheater. Es ist ein Erlebnistheater, wo eben diese Musik von Nono, über die muss ich ja reden, weil sozusagen ich, der verantwortlich für die Musik bin, diese Musik macht in diesem Raum, in dieser inszenierten Handlung und diesem Miteinander komplett Sinn. Ich würde mich weigern, das Stück mit Orchestergraben und Bühne zu machen.

[Musik aus dem Stück]