«Die Welt, die wir zu verstehen glauben»

Regisseur Thomas Verstraeten im Gespräch mit Lea Vaterlaus (Dramaturgieassistenz) über die Unberührtheit in Joseph Haydns Oratorium ‹Die Schöpfung›, die inspirierende Zusammenarbeit mit Jugendlichen und transparente Grenzen zwischen Theater und Realität

Lea Vaterlaus: Du arbeitest in dieser Produktion mit etwa 100 Schüler:innen. Hat die Zusammenarbeit mit den Jugendlichen dein Konzept beeinflusst?

Thomas Verstraeten: Dass viele junge Menschen aus den Gymnasien Muttenz und Oberwil an dieser Produktion beteiligt sein würden, war bereits von Beginn an festgelegt. Die Schüler:innen befinden sich in einem Alter, das zwischen Kindheit und Volljährigkeit liegt. Ich habe deshalb eine Geschichte entwickelt, die sich mit dem Erwachsenwerden befasst und zugleich ihr Leben in der Stadt Basel miteinbezieht. Einen deutlichen Einfluss auf die Inszenierung hatten schliesslich die Hauptdarsteller:innen – eine Gruppe von 13 Jugendlichen, die in einem Casting ausgewählt wurden. Ich hatte die Jugendlichen in Vorbereitung auf das Casting darum gebeten, Videos aufzunehmen, in denen sie einige Aufgaben umsetzen mussten. Aus diesen Videos und während der darauffolgenden Proben entstanden viele Ideen und Gespräche, welche die Produktion beeinflussten, beispielsweise die Entscheidung, dass Adam und Eva nun von zwei Frauen gespielt werden. Ich finde es sehr inspirierend, dass aus diesem Stück ein partizipatives Projekt geworden ist, zu welchem auch die Schüler:innen ihren Beitrag leisten.

Der Abend setzt sich aus unterschiedlichen Teilen zusammen. Kannst du diese Teilung genauer beschreiben?

Der erste Teil des Abends besteht aus einer naiven und nostalgischen Aufführung von Haydns ‹Schöpfung›, die von einem Schulchor und einem Schulorchester gesungen und gespielt wird. Das Bühnenbild wird von den Jugendlichen eigenhändig bewegt. In dieser rund halbstündigen Fassung werden die Elemente der Schöpfungsgeschichte präsentiert: Die Blume, die Sonne, der Wal, der Löwe und weitere Figuren bis hin zum Menschen. Danach betritt das Publikum den Saal der Grossen Bühne, wo es auf die Erzengel Gabriel, Uriel und Raphael sowie das La Cetra Barockorchester stösst. Während der originalen, ‹erwachsenen› Aufführung des Oratoriums erscheinen auf einer riesigen Leinwand wieder einige der Schüler:innen von vorher. Wir treffen sie nach ihrem Auftritt in der Garderobe, wo sie ihre Kostüme und damit ihre kindliche Naivität ablegen. Als junge Erwachsene betreten sie daraufhin das ‹echte› Leben in der Stadt, das weit entfernt ist vom Schöpfungsmythos, den sie im Foyer darstellten. Mit Handys filmen die Jugendlichen sich selbst und ihre Umgebung und versuchen dabei, ihren eigenen Platz in der Welt zu finden. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Theater und Realität.

Die Übertragung der Live-Videoaufnahmen aus der Stadt auf die Grosse Bühne setzt ein perfektes Timing voraus. Wieso hast du dich für Live-Aufnahmen entschieden?

Eigentlich wollte ich zuerst einen vorproduzierten Film drehen, in welchem eine Kamera die Jugendlichen begleitet. Ich habe mich aber schliesslich dagegen entschieden, da es typisch für die heutige Generation ist, sich selbst zu filmen und Aufnahmen von sich ins Internet zu stellen. Mich interessiert die Sichtweise der Jugendlichen auf die heutige Welt und ihren Umgang mit der Schöpfung, so wie sie ihnen übergeben wurde. Die Jugendlichen können selbst entscheiden, wie sie sich vor der Kamera darstellen möchten. Die Tatsache, dass es sich bei den Videoeinspielungen um Live-Übertragungen handelt, macht den gesamten Abend sehr performativ, das macht die Geschichte umso spannender.

Du hast auch das Bühnenbild dieser Inszenierung entworfen. Worauf spielen die beiden Bühnen im Foyer und im Grossen Saal an?

Während des Abends wird das Publikum durch verschiedene Ebenen der Realität geführt. Die Bühne im Foyer repräsentiert ein Barocktheater, das wie aus der Zeit gefallen erscheint. Das Eskapistische dieser Bühne ist eine Hommage an die Magie des Theaters. Diese ästhetische und konfliktlose Darstellung verknüpft sich mit der Idee des unberührten Paradieses aus Haydns ‹Schöpfung›. Eine grosse Inspiration dafür war das Schlosstheater Drottningholm bei Stockholm, das um die Zeit Haydns gebaut wurde und als eines von wenigen Theater noch die ursprüngliche, manuelle Bühnenmaschinerie nutzt. Auf der Grossen Bühne befindet sich ein Kontrollraum mit zahlreichen Bildschirmen und einer grossen Leinwand. Die Videos der Jugendlichen, die dort eingespielt werden, erzählen eine eigene Version der Realität. Die drei Erzengel Gabriel, Uriel und Raphael betrachten diese Welt vom Kontrollraum aus, ohne in die Geschichte einzugreifen. Sie lassen sich von dem, was sie sehen, inspirieren, sind gleichzeitig aber auch nostalgisch gegenüber der Schöpfungsgeschichte, wie sie in Haydns Werk beschrieben wird.

Die Welt zu Haydns Zeit war sicherlich nicht so rein und sorglos, wie er sie in seinem Werk darstellt. Welchen Bezug hat die Schöpfungsgeschichte zur heutigen Zeit?

Haydn hat mit dem Optimismus seines Oratoriums selbst eine Gegenbewegung zur Wirklichkeit erschaffen. Aus heutiger Sicht gibt es eine umso grössere Diskrepanz zwischen der positiven, perfekten Welt aus dem Oratorium und dem realen Leben. Die Vorstellung von einer Welt, in der alle Elemente schön sind und alles an seinem Platz ist, berührt alle. Ich glaube, dass sich insbesondere die jungen Leute mit dem Traum von einer besseren Zukunft und einem gesünderen Planeten sehr gut identifizieren können. Ich habe mich lange mit der Frage auseinandergesetzt, wie man Gott und Religion verstehen kann, wenn man nicht gläubig ist. Für mich ist eine unsichtbare Macht heute insbesondere in der Erschaffung von künstlichen Intelligenzen und Algorithmen ersichtlich. Es ist eine Kraft, die unser Leben beeinflusst, die wir als solche aber nicht begreifen können. Die virtuelle Welt, die unsere reale Welt in Beschlag nimmt, kann der Ort sein, an dem Gott handelt. Wir erleben die Schöpfungsgeschichte neu – als ‹mediale Schöpfung›.

In seinem Oratorium klammert Haydn die Verlockung Evas durch den Teufel und den darauffolgenden Sündenfall aus. ‹Die Schöpfung› endet mit der Lobpreisung Gottes im Paradies. Inwiefern führst du die Geschichte fort?

Genauso wie für Haydn war John Miltons Gedicht ‹Das verlorene Paradies›, in dem der Sündenfall beschrieben wird, eine grosse Inspiration für mich. Dass Haydns Oratorium aber endet, bevor Adam und Eva das Paradies verlassen müssen und auf Konflikte treffen, ist aus dramatischer Sicht wirklich erstaunlich. In meiner Produktion integriere ich die Vertreibung aus dem Paradies. Aus der Gruppe von Jugendlichen treten im Verlauf des Abends zwei Schülerinnen hervor, die als Adam und Eva ihre ersten Liebeserfahrungen teilen. Auf ihrem Weg durch Basel machen sie aber seltsame Begegnungen, die sie stutzen lassen. Dazu gehört unter anderem ein geheimnisvoller Mann, der erst als Prediger, danach als Fischer und schliesslich als Strassenmusiker erscheint. Ich nenne ihn den ‹Teufel in Menschengestalt›, der verschiedene Gesichter annehmen kann und versucht, die Jugendlichen zu warnen und zu verlocken. Adam und Eva müssen feststellen, dass die Welt, die sie zu verstehen glaubten, doch nicht so transparent ist, wie sie dachten.

‹Die Schöpfung› →
Premiere: 22. April 2023, Grosse Bühne
 

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