Antú Romero Nunes: «Das Theater hat verlernt zu unterhalten»
Photo: Christian Knörr
Text: Alfred Schlienger, 22.08.2024, NZZ
Seit Jahren inszeniert er an den wichtigsten Häusern in Berlin und Hamburg, in München, Zürich und Wien. Seine Produktionen touren bis nach Chile und China. Man buhlt um diese eigenwillige Regiehandschrift, die sprüht vor Spielwitz.
Antú Romero Nunes hat das Lachen zurückgebracht in die dunklen Höhlen des Theaters, engagiert, herzhaft – und ja, manchmal unverschämt bis zur Schmerzgrenze. Vor allem dann, wenn’s eigentlich bitterernst ist. Die Kippschaukel von Tragik und Komik ist das Kennzeichen seiner Bühnenkunst, von ihr aus blickt er auf die Welt und die Menschen.
Natürlich hat er dabei ein paar berühmte Geistesverwandte. Nunes ist nahe an Monty Python und noch näher an Beckett, den Slapstick eines Jacques Tati treibt er in neue Höhen; auch Almodóvar und Tabori zwinkern amüsiert um die Ecke. «Niemals», wehrt Nunes entschieden ab, «würde ich mich selbst mit diesen grossen Künstlern vergleichen!»
Schwer geprüft
Die Erfolgsgeschichte von Antú Romero Nunes beginnt mit einigen Schwierigkeiten. Aus dem Regiestudium an der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin will man ihn rausschmeissen. Semester für Semester lässt man ihn durch Prüfungen rasseln. Er habe kein Talent, sagen seine Professoren, man verstehe gar nicht, warum man ihn hier aufgenommen habe.
Seine Rettung sind Theaterpraktiker wie Jan Bosse und Armin Petras, die Arbeiten von ihm sehen und ihn auf ihre Bühnen holen. Kaum der Schule entronnen, regnet es dann erste Preise. Nunes wird Nachwuchsregisseur des Jahres 2010 und erhält 2011 den Kurt-Hübner-Regiepreis für seine Bühnenadaption von Viscontis ‹Rocco und seine Brüder›, darauf folgt 2012 der Friedrich-Luft-Preis für seine radikale ‹Räuber›-Inszenierung.
Mit 26 Jahren wird Nunes Hausregisseur am Berliner Gorki-Theater und später am Thalia in Hamburg. Was aber hat diesen Regie-Puck später dazu verführt, in Basel anzudocken? Als man ihn anfragt für die Leitung des Basler Schauspiels, zeigt er zuerst kein Interesse. Dann aber macht man ihm das Angebot einer Co-Leitung – zum Beispiel zusammen mit dem Schauspieler Jörg Pohl. Da sei ihm sofort klar gewesen, erzählt Nunes: «Wenn ich einen Schauspieler in die Leitung kriege und wir das Spielen und das Ensemble zum Zentrum machen können, sage ich Ja.» Basel sei eben auch eine richtige Kunststadt, da würden Dinge ausprobiert, die Leute wollten herausgefordert werden, das möge er schon sehr.
Für das Gespräch ist Nunes eben aus Hamburg eingeflogen, wo er die Überschreibung von Tschechows ‹Kirschgarten› probt, an der er selbst mittextet. Was interessiert ihn heute an dem 121 Jahre alten Klassiker? «Die sterbende Welt», sagt er. «Es ist verrückt spannend: Man weiss nicht: Kämpfen die ums Überleben, oder ist es so, dass sie ihre eigene Welt sprengen wollen?» Das klingt wie die Kurzanalyse zu aktuellen Zeitläuften.
Aufgewachsen ist Antú Romero Nunes im beschaulichen Tübingen, beide Eltern haben Diktaturerfahrungen hinter sich: Die chilenische Mutter, eine Sozialpädagogin, musste vor dem Pinochet-Regime fliehen, der portugiesische Vater, ein Psychotherapeut, hatte sich mit der Salazar-Diktatur angelegt.
Hat ihn dieser Hintergrund geprägt? Der vermeintliche Leichtfuss Nunes hat tatsächlich eine Vorliebe für existenzielle Stoffe und grosse Lebensfragen. Und die holt er mit abgründiger Spiellust konsequent ins Jetzt. ‹Antigone› lässt er in Basel als Zweipersonenstück mit vielen schnellen Rollenwechseln im Schweizerdialekt spielen – und der Abend verliert kein Gramm seiner archaischen Wucht. Auch seine ‹Ilias›-Inszenierung reduziert er auf zwei Figuren, Odysseus und Achills Mutter, die er in einer ans Niederländische angelehnten Kunstsprache brabbeln lässt. Und man versteht fast jedes Wort – wenn’s nicht im Gelächter untergeht.
Theatrale Longseller
Melvilles Roman ‹Moby Dick›, dieser Überlebenskampf auf hoher See, füllt als rauschhaftes Solospektakel die riesige Bühne des Basler Dreispartenhauses. Nunes hat den 900-Seiten-Wälzer zu zwei atemlosen Theaterstunden verdichtet. Im Zentrum der grossartige Schauspieler Jörg Pohl. Es ist etwas vom Besten, was zurzeit auf Schweizer Bühnen zu sehen ist: Apotheose und Dekonstruktion eines Männlichkeitswahns.
Bei Nunes liegen die Mittel stets ganz offen zutage. Die Bühne bleibt oft fast leer, Hauptrequisit ist die Imagination. Dieses Theater braucht den aktiven, mitphantasierenden Zuschauer. Brechts ‹Dreigroschenoper› nimmt Nunes wörtlicher als Brecht selbst und macht sie durchs Mitspielen der brechtschen Regieanmerkungen zum grossen Gaudi.
In seinem ‹Sommernachtstraum› persifliert Nunes liebevoll das Theatertreiben an sich, verzaubert damit Publikum und Presse. Kein Wunder, wurde er damit zum zweiten Mal ans Berliner Theatertreffen eingeladen. All diese Produktionen aber sind auch in der kommenden Spielzeit noch auf den Basler Bühnen zu sehen, bereits im dritten, vierten, fünften Jahr. Longseller, wie sie sich jedes Theater wünscht.
Lust aufs Leben
Was hält der Theatermagier vom vielzitierten Bedeutungsverlust des Theaters? «Ich sage es mal ganz altbacken», sagt er schmunzelnd: «Das Theater hat verlernt zu unterhalten. Oft wird mehr versucht, die Kollegen zu beeindrucken als das Publikum.» Dabei müsse man den Leuten Lust aufs Leben machen. Auf tausend Arten Kontakt aufnehmen miteinander, das sei der Urgrund von Theater. Künstlerisch beschäftigt ihn die allgemeine Sinnkrise: «Das Leben ergibt keinen Sinn, also muss ich an einen Ort gehen, wo ich mich wohlfühle. Mich interessiert die Probebühne, wo wir etwas erfinden, das niemand braucht. Ich glaube, dass das Spiel genau eine Antwort auf dieses Gefühl ist.»
Was aber treibt diesen klugen Kopf immer wieder in die anarchische Komik? «Ich finde das selber ja gar nicht so witzig», sagt er und lacht. «Es geht mir mehr um das Brechen der herkömmlichen Logik.» Da treffen sich Philosophie und Narretei, die beide davon ausgehen: Es könnte ja auch ganz anders sein. «Echte Tiefe», unterstreicht Nunes, «bekommt man durch den radikalen Wechsel der Perspektive und durch subversive Komik. Und nur durch Humor hält man die Tragik überhaupt aus.»
Wie erleben Schauspieler, die oft mit ihm proben, diesen Regisseur? Jörg Pohl verbindet mit Nunes eine 15-jährige Arbeits- und Freundschaftsbeziehung. Und er sitzt mit ihm in der kollektiven Schauspielleitung. Was sticht für ihn heraus? «Diese Engelsgeduld! Diese Grosszügigkeit im Blick! Diese Fähigkeit, eine kollektive Spielatmosphäre zu kreieren!», sprudelt es aus ihm heraus. Nunes’ Blick sei nie verstellt durch ästhetische Vorurteile. «Er sieht in dem, was ist, auch das, was noch werden kann.» Durch seine Offenheit sei der Probenprozess allerdings riskanter als bei anderen Regisseuren. Das könne manchmal auch schwierig werden, weil es lange dauere, bis Entscheidungen fielen.
Stetes Jonglieren
Was schätzt Nunes umgekehrt an Schauspielern? «Die Bereitschaft, in unbekannte Gefühlsbereiche vorzustossen, indem man mit sich selber geduldig und humorvoll umgehen kann», meint er. Für ihn sei Schauspielerei, wie man sich Kung-Fu vorstelle: «Alle wissen immer und überall, was gerade passiert, hinten und vorn, oben und unten und auf allen Seiten – und sie können damit jonglieren.»
Bei Nunes’ ausgeprägtem Sinn für Spiel und Witz mag man sich fragen: Hat er in seinem eigenen Leben auch schon Tragisches erlebt? «Meine Freundin ist bei einem Unfall mit 29 Jahren ums Leben gekommen – völlig unsinnig. Sich davon zu erholen, war eine Aufgabe. Danach habe ich ‹Moby Dick› gemacht. Ich wollte wissen, wie man Trauer verspüren kann, ohne dabei umzukommen. Das Theater ist ein guter Ort dafür.»
Eben ist der 40-jährige Nunes Vater geworden. Überblickt er schon ein wenig, was sich alles ändern wird in seinem umtriebigen Leben? «Überhaupt nicht», sagt er lachend. «Aber es gibt plötzlich etwas anderes, was so wichtig wird. Es ist alles so unglaublich lustig und hoch absurd. Im Moment möchte mein Baby ja nur, was wir alle wollen: Nähe, Essen, Schlafen.»