Das Traurige ist, dass sich das Patriarchat so schwer abschaffen lässt

Interview mit Evelinn Trouble

Kris Merken: Wie würdest du Paul Dessaus Musik für «Mann ist Mann» beschreiben?

Evelinn Trouble: Sie klingt für mich wie eine Militärkapelle, die nicht alle Tassen im Schrank hat. Es ist zwar Marschmusik, aber mit verstörenden Harmonien und Melodien, die sich durch viele Halbtöne hangeln und in denen das Ohr keinen Halt findet. Ich habe den Eindruck, das war seine Absicht; das Heroische von Militärmusik in etwas Groteskes zu verwandeln.

KM: Wie bist du bei der Bearbeitung vorgegangen?

ET: Da ich keine Kapelle zur Verfügung hatte, habe ich die einzelnen Stimmen herausgehört und auf elektrische Instrumente übertragen. Aus Teilen dieser Kompositionen habe ich neue Sequenzen arrangiert. Daraus sind diese kleinen aggressiven Märsche entstanden. Die anderen Songs von Dessau, die wir spielen, gehören zur Figur der Witwe Begbick. Sie tritt immer wieder aus dem Geschehen heraus und singt uns ihre Weisheiten vor. Diese musikalischen Passagen schaffen Raum, um während des Stückes über das Stück nachzudenken.

KM: Gibt es Leitmotive?

ET: Ja, es gibt zwei Songs von der Witwe Begbick, die sich auf eine Welle beziehen. Es geht um Gleichmut, darum, den Fluss der Dinge zu akzeptieren. Dann gibt es zwei Versionen von "O Mond von Alabama", eine in Dur und eine in Moll, wo der wandelnde Mond besungen wird, der auch im Sprech-Text ein wiederkehrendes Motiv ist.

KM: Die Inszenierung beginnt als Kasperletheater mit viel Slapstick. Die Stimmung kippt, als Galy Gay der Prozess gemacht wird. Tragisch ist auch die scheinbare Unausweichlichkeit des Krieges am Ende. Wie verhält sich das musikalisch?

ET: Es gibt Eskalationsstufen in der Geschichte, wo sich Galy Gay immer mehr in die Scheiße reitet. Und dann gibt es immer wieder Unterbrechungen, in denen die Witwe zum Publikum spricht. Die Schlinge zieht sich dadurch sehr langsam und stetig zu, weil durch diese Wechsel die Zeit immer wieder stehen bleibt. Das ist unangenehm, weil das Schicksal von Galy Gay ausweglos ist und man zusehen muss, wie er in den Abgrund rasselt.

KM: Und die Witwe Begbick?  Was ist mit ihr?

ET: Sie ist neben der Frau von Galy Gay die einzige weibliche Figur im Stück und daher für mich eine sehr wichtige Stimme. Sie erzählt im Laufe des Stückes immer wieder ein wenig aus ihrer Biographie, die Lücken kann man selbst füllen. Ich denke, sie hat schon viele Kriege und Widrigkeiten erlebt und ist dadurch sehr abgebrüht und geschickt geworden, in dieser dystopischen Welt zu überleben. Sie hat eine innere Distanz zu allem, im Gegensatz zu den Soldaten, die immer Opfer ihrer Situation sind. 

KM: Hat das Stück feministisches Potenzial? 

ET: Ich denke nicht, dass Brechts Originaltext sehr feministisch ist. Der Kriegswahnsinn, der Imperialismus und der Kapitalismus werden zwar kritisiert, aber nicht als Probleme des Patriarchats verstanden und analysiert. Aus feministischer Sicht würde ich sagen, dass es drängendere Stoffe gibt als diesen, trotzdem haben wir versucht eine feministische Lesart einzubringen. Die Witwe Begbick singt «Katie Cruel», einen schottisch-amerikanischen Folk-Song aus der Zeit des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges Ende des 18. Jahrhunderts. Der Songtext hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit Brechts Text der Witwe: Sie kommt in eine Stadt und alle sind ganz begeistert von ihr. Dann trinkt sie einen Abend zu viel und ist bei allen unten durch.

Für mich beschreibt der Song unglaublich gut, wie es sich anfühlt, Misogynie zu erfahren. Oder anders gesagt, was es heisst, als Frau im Patriarchat zu leben. Vordergründig haben wir eine gleichberechtigte Gesellschaft und alles scheint gut zu sein. Aber wenn du dich nicht entsprechend deinem Geschlecht verhältst, zu viel Platz einnimmst, Machtansprüche äusserst, Rechte einforderst, Konsequenzen forderst, in irgendeiner Weise störst, dann kommt die Keule runter und du wirst niedergemacht, du wirst auf deinen Platz verwiesen und der ganze verborgene Hass schlägt dir aufs Mal entgegen. Das sind zutiefst barbarische Vorgänge. Sie können gross und einschneidend sein oder ganz klein im Alltag. Wenn ich zum Beispiel mit dem Fahrrad einem Mann den Weg abschneide und dann hasserfüllt, als "Hure" beschimpft werde, frage ich mich: Galt das mir? Oder Frauen im Allgemeinen?

KM: Die Inszenierung endet mit «Unknown Soldier» von The Doors. Warum hast Du dieses Antikriegslied gewählt?

ET: Der kam mir in den Sinn, als ich den Text gelesen habe. Diese Anonymisierung eines Soldaten. Galy Gay ist am Ende des Stücks austauschbar und deshalb kann man ihn einfach als Kanonenfutter verwenden. Ausserdem bin ich Doors-Fan und habe eine gewisse Faszination für die amerikanische Popkultur der späten Sixties. Da vermischten sich viele Sachen auf krude Weise. Friedensbewegung, das Civil Rights Movement, Auflehnung gegen die Nuklearfamilie, erste grosse Rockkonzerte, psychedelische Drogen, Kommunenleben, "Free Love" aber eben auch die Realität des Vietnamkrieges und Charles Manson unter anderem. Das alles schwingt für mich in diesem Song mit. Er erinnert mich auch an den Film «Apocalypse Now»; Wahnsinn, Gewalt und ein Gefühl von Unentrinnbarkeit.

KM: Wir haben Ort und Zeit des Geschehens im Stück angepasst, um es näher an uns heranzuholen. Den Bezug zum historischen Imperialismus haben wir in den Liedern beibehalten. The Doors beziehen sich auf die jüngere Geschichte, den Vietnamkrieg. So entsteht auf der musikalischen Ebene ein historisches Panorama. Und das erzählt für mich auch davon, dass diese immergleiche Frage des Krieges scheinbar unlösbar ist. 

ET: Die ewige Frage des Krieges ist nur so lange unlösbar, wie das (kapitalistische) Patriarchat fortbesteht. Das Traurige ist, dass es sich so schwer abschaffen lässt.

 

 

 

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